Die Enttäuschung war Emre Can anzusehen und anzuhören. Der Kapitän von Borussia Dortmund hatte die unangenehme Aufgabe, erklären zu müssen, warum es nicht gelang, die große Chance auf eine gute Ausgangsposition auf das Viertelfinale in der Champions League zu behaupten oder gar auszubauen. „Wir waren viel zu passiv. Wir sind nicht dahin gegangen, wo es wehtut“, sagte Can. Er redete Klartext, legte seinen Finger in die Wunde. „Das war zu wenig Intensität gegen den Ball, wir müssen definitiv besser spielen“, erklärte er im Hinblick auf das Rückspiel beim OSC Lille in einer Woche.

Den Grund, warum der BVB beim 1:1 (1:0) im Hinspiel am Dienstagabend nur eine Halbzeit lang überzeugen konnte, benannte Can allerdings nicht. Es ist ja auch nicht leicht, darzulegen, warum ein Team, das gut im Spiel ist, den Gegner beherrscht und fast alle Zweikämpfe gewinnt, auf einmal damit aufhört, aktiv Fußball zu spielen. 45 Minuten lang hatten die Dortmunder in dieser eigenartigen Partie gegen den Tabellenfünften der Ligue1 scheinbar alles im Griff. Sie führten verdient durch einen sehenswerten Treffer von Karim Adeyemi aus der 22. Minute. Doch dann kamen sie wie verwandelt aus der Kabine: Sie wirkten plötzlich verzagt, fast schon lethargisch.

„Wir haben zwei verschiedene Halbzeiten gesehen. In der ersten waren wir griffig, hatten viele gute Balleroberungen. In der Zweiten waren wir das Gegenteil. Wir haben nur noch reagiert“, sagte BVB-Trainer Niko Kovac, der der scheinbar seltsamen Verwandlung seiner Mannschaft machtlos zusehen musste.

Kovac blieb trotzdem seiner Linie treu

All das, was seine Spieler bis dahin gut und richtig gemacht hatten, machten sie danach schlecht oder falsch – oder eben gar nicht mehr. Es gab kein frühes Attackieren mehr, keinen Versuch, verlorene Bälle sofort zurückzuerobern. Die Dortmunder, die in der Bundesliga eine insgesamt fast schon katastrophal zu nennende Bundesligasaison spielten, sich aber nach zuletzt zwei Siegen in Folge auf dem Weg aus der Krise wähnten, erlitten einen Rückschlag. Die Fans, die gerade dabei waren, ein wenig neue Hoffnung zu schöpfen, waren desillusioniert. Die Mannschaft wurde mit vereinzelten Pfiffen verabschiedet.

Kovac blieb trotzdem seiner Linie treu. Er vermied es, die Spieler zu hart zu kritisieren. Er beließ es beim Schildern der Symptomatik – was allerdings Hinweise auf die Ursache der Probleme gab. „Wenn man den Gegner anläuft, muss man zügig herausstechen und den Zweikampf suchen. Das ist das Entscheidende“, sagte er.

Weil der BVB das jedoch nach dem Wechsel nicht mehr tat, handelte er sich durch die einzige echte Torchance der Gäste den Ausgleich ein. Jonathan konnte ohne nennenswerte Bedrängnis den Ball zu Hakon Haraldsson durchstecken, der im Fallen vorbei an Kobel zum 1:1 traf (68. Minute).

Danach schafften es die Dortmunder nicht mehr, ihre Offensive noch einmal anzuwerfen. Sie schossen im zweiten Abschnitt kein einziges Mal auf das Tor. „Wir hatten zu wenig Anspielstationen. Dann verliert man den Ball – und dann fehlt irgendwann die Kraft“, erklärte der Kovac. Im Fußball gehe es um „die Bereitschaft, die Zweikämpfe zu führen“, so der 53-Jährige.

Warum aber waren die Dortmunder im zweiten Durchgang nicht mehr bereit? Weil sie – wie viele Kritiker ihnen in den vergangenen Jahren immer wieder unterstellt haben – nicht mehr wollten? Oder eher: weil sie nicht mehr konnten?

Dortmunds Spieler zum Laktat-Test

Tatsächlich nährte dieser seltsame Abend einen klaren Verdacht, wo das Kernproblem zumindest in der aktuellen Spielzeit zu suchen ist: Es fehlt nicht an grundsätzlicher Leistungsbereitschaft. Niemand lässt sich eine gute Ausgangsposition, unter die besten acht Teams Europas einzuziehen, leichtfertig aus der Hand nehmen. Es mangelt offenbar bei einigen Profis an der physischen Voraussetzung, eine intensive Spielweise in Zeiten englischer Wochen über die volle Dauer einer Partie durchzuziehen. Der Fußball, den Kovac seit seiner Amtsübernahme vor einem Monat dem Team zu vermitteln versucht, setzt ein solides Fundament voraus. Doch der Mannschaft scheint es gegen Ende von intensiven Spielen an Energie zu fehlen.

„Nein, es ist keine Kraftfrage. Wir sind Profisportler, du musst alle drei, vier Tage Leistung bringen, sonst bist du falsch in dem Beruf“, widersprach Nico Schlotterbeck allerdings entschieden der These, der BVB habe ein Fitness-Problem. Vielleicht sehe das „von außen so aus“, so der Innenverteidiger, „aber ich kann von mir sagen: Es ist absolut keine Kraftfrage.“ Gregor Kobel, der mit der gleichen Frage konfrontiert wurde, antwortete dagegen ausweichend. „Das weiß ich nicht“, sagte er. Es sei „schwierig“ für ihn, „als Torwart etwas dazu zu sagen.“

Fakt ist: Kovac hatte die Spieler vor einer Woche einer Fitness-Überprüfung unterzogen und einen Laktat-Test angeordnet. „Wir wollten wissen, wo wir stehen, was der Ist-Wert ist. Wir wissen alle, Fußball ist ein Laufsport“, hatte er gesagt und angekündigt, die Erkenntnisse „in die tägliche Arbeit“ einbauen zu wollen – sofern dies im laufenden Spielbetrieb möglich ist. Denn grundsätzliche Verbesserung von Ausdauerwerten können nur im Rahmen der Vorbereitung erzielt werden. Kovac vermied es, eine konkrete Einschätzung vom Zustand abzugeben.

Physische Defizite wären schwieriger aufzuarbeiten als jene, die taktischer Natur waren oder sind. Tatsächlich haben die Dortmunder unter Kovac an defensiver Stabilität gewonnen. Die Anzahl der Gegentore hat sich wettbewerbsübergreifend verringert. „Wir haben in den letzten Wochen wirklich große Schritte gemacht, aber natürlich haben wir noch einige Schritte zu machen. Die müssen wir schnell machen, denn wir haben wenig Zeit“, sagte Kobel.

Der BVB muss in den kommenden Wochen an seine Grenzen – vor allem auch physisch. Nur dann kann die Aufholjagd in der Bundesliga fortgesetzt werden - Siege gegen Augsburg, Leipzig und Mainz sind fast schon verpflichtend. Und mittendrin steht das Rückspiel in Lille an. „Die erste Halbzeit ist gespielt, die zweite folgt nächste Woche“, sagte Kovac. Die Hoffnung ist, dass es dann zwei gleichbleibend gute sein werden.

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