Vom Flughafen King Khalid International im Nordosten von Riad braucht man knapp 30 Minuten über die „Airport Road 539“ bis ins Zentrum der Hauptstadt von Saudi-Arabien. Am Horizont taucht die Skyline der Sieben-Millionen-Einwohner-Metropole auf. Auf dem Seitenstreifen der teilweise fünfspurigen Straße stehen im Abstand von wenigen 100 Metern riesige Werbeplakate. Meist sind Sportstars wie Cristiano Ronaldo (40), Novak Djokovic (37), Tiger Woods (49) oder Box-Weltmeister Oleksandr Usyk (38) darauf abgebildet. Auf einer Werbefläche steht: „Förderung des Fortschritts durch die Schönheit des Sports.“

Sport ist in Saudi-Arabien einer der wichtigsten Eckpfeiler der von Kronprinz Mohammed bin Salman (39) initiierten „Vision 2030“. Eine Modernisierungskampagne für das ganze Land, die im April 2016 offiziell vorgestellt wurde.

Sebastian Sons (43), Experte für arabische Golf-Monarchien, erklärt in SPORT BILD: „Die Saudis brauchen eine vom Erdöl unabhängige Wirtschaftspolitik.“ Deshalb will sich das Land als touristisches und kulturelles Zentrum etablieren. „Das neue Saudi-Arabien soll eine Mischung sein aus einer konservativen Gesellschaft, kombiniert mit Elementen des westlichen Unternehmertums. Bin Salman möchte, dass seine Bevölkerung als moderne, dynamische, kreative Gesellschaft gesehen wird, die nicht nur über Öl und Frauenrechte wahrgenommen wird“, erklärt Sons weiter.

Das große Problem: Saudi-Arabien als absolutistische Monarchie gehört weiterhin weltweit zu den Ländern, in dem es die größten Menschenrechtsverletzungen gibt, wie die Unterdrückung der Rechte auf freie Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Auch die Rechte von Frauen, der LGBTQ-Community und der Arbeitsmigranten sind immer noch stark eingeschränkt. Bei Verstößen greift das Regime hart durch. Laut Amnesty International gab es im vergangenen Jahr 198 Hinrichtungen. Vieles deutet außerdem darauf hin, dass Mohammed bin Salman 2018 in dem Mord am saudischen Dissidenten und Journalisten Jamal Khashoggi (†59) involviert war.

Höhepunkt der saudischen Sportoffensive ist die Fußball-WM 2034

Der Sport soll jetzt dabei helfen, das Image des Landes aufzupolieren. Sechs Milliarden US-Dollar sind deshalb seit Anfang 2021 über den „Public Investment Fund“ (PIF/Gesamtvolumen 925 Milliarden) in sportbezogene Projekte gepumpt worden. Vor allem in Transfers von Fußball-Stars wie Cristiano Ronaldo, Karim Benzema und vielen mehr für die Saudi Pro League wurde viel Geld gesteckt. Auch die Formel 1, Golf-, Tennis- und Box-Events spielen im Wüstenstaat eine wichtige Rolle.

2027 finden in Riad die ersten olympischen E-Sport-Spiele statt. Drei Jahre später steigen im Nordwesten des Landes die asiatischen Winterspiele. Dafür wird gerade ein eigenes Skigebiet gebaut: Trojena ist ein Teil des Touristenresorts Neom, einem ebenfalls im Bau befindlichen Siedlungsprojekt auf einer Fläche fast so groß wie Belgien. Kostenpunkt: rund 500 Milliarden US-Dollar. 380.000 Arbeitsplätze sollen so geschaffen werden.

Geld spielt keine Rolle

Und der absolute Höhepunkt der saudischen Sportoffensive: die Fußball-WM 2034, die erst im Dezember an Saudi-Arabien vergeben wurde. In Europa und anderen Teilen der Welt fällt in diesem Zusammenhang oft der Begriff „Sportswashing“. Also die Bestrebung, das Ansehen eines Landes durch Sportveranstaltungen und deren positive Reputation in den Medien zu verbessern.

Sons sieht das allerdings ganz anders: „Es braucht Sektoren wie den Sport, um Arbeitsplätze für die Bevölkerung zu schaffen. Das hat absolute Priorität und hat insofern nichts mit ‚Sportswashing‘ zu tun. Es geht darum, gegenüber der eigenen Gesellschaft eine neue Form von Nationalismus aufzubauen. Sport soll zum Lifestyle der Bevölkerung gehören. Der Breitensport spielt eine große Rolle bei der nationalen Identitätspolitik.“

Deshalb entsteht in der Hauptstadt gerade u. a. ein „Sports Boulevard“ mit über 50 Sporteinrichtungen für rund 23 Milliarden US-Dollar. Ein Ausflugsziel für Fußgänger, Lauf- und Radsportler sowie Sport-Liebhaber im Allgemeinen. Ein Großteil der Welt würde die saudischen Investments in den Sport längst nicht mehr so kritisch sehen wie die Europäer, vor allem die Deutschen, erklärt Sons: „In Saudi-Arabien ist man der Meinung, dass der Westen so tut, als würde ihm der Fußball gehören. Man will sich als Alternative dazu positionieren.“

Für Alexander Bade (54) ist Saudi-Arabien zu einer solchen Alternative geworden. Der ehemalige Bundesliga-Torwart (48 Spiele für Köln, Bochum, den HSV und Dortmund) arbeitet seit letztem Sommer als Torwarttrainer von al-Ahli in Dschidda am Roten Meer. Er erzählt: „Wir fühlen uns hier sehr wohl. Damit haben wir nicht gerechnet. Mein Sohn geht auf eine deutsche Schule, meine Frau will hier gar nicht mehr weg. Das Leben hier ist entschleunigt. Hier gibt es keinen großen Zeitdruck. Die Leute leben nach dem Motto ,Inshallah tomorrow‘ also: So Gott will, morgen. Es wird sich nicht ständig über irgendwelche Kleinigkeiten aufgeregt. Und das Wetter ist natürlich grandios.“

Bade und al-Ahli liegen momentan auf Platz 5 der Saudi Pro League, nur drei Punkte hinter Ronaldo-Klub al-Nassr. Vorurteile oder Dinge, die er über das Land vorher aufgeschnappt habe, hätten sich laut Bade nicht bestätigt. Er sagt: „Ich laufe hier in kurzen Hosen und T-Shirt herum. Viele Saudis machen das mittlerweile auch. Sie sind ein sehr junges Volk. Das ist ein richtiges Social-Media-Land. Hier läuft alles über Instagram und Snapchat. Die bekommen mit, was im Rest der Welt so läuft und wollen dementsprechend natürlich auch so sein.“

Das war aber nicht immer so, berichtet Miguel Álvarez. Der 42-Jährige aus Versmold (NRW) kam vor über zwölf Jahren erstmals nach Saudi-Arabien, arbeitet aktuell als Videoanalyst bei al-Ettifaq. Er sagt: „Als ich 2012 hierhergekommen bin, durften Frauen noch nicht ins Stadion, durften nicht Auto fahren oder arbeiten. In den Restaurants gab es getrennte Bereiche für Männer und Frauen. Vor einigen Jahren wurde ich noch oft aus einer Mall gebeten, weil ich eine kurze Hose getragen habe. Das war öffentlich nicht gern gesehen. Heute ist das alles ganz anders, viel offener. Es sind deutliche Fortschritte erkennbar.“

„Große Akzeptanz für weibliche Sportstars“

Sons glaubt, das habe „auch mit der Politik des Kronprinzen zu tun. Er will das Land liberalisieren. Es gibt eine große Akzeptanz für weibliche Sportstars. Frauen können in vielen Sportarten Erfolge erzielen. Der Mädchensport an den Schulen wächst. Frauen werden als gesellschaftliche Vorbilder idealisiert und sind die bevorzugte Zielgruppe von bin Salman. Er macht stark Politik für sie, da sie ein Teil des neuen Saudi-Arabiens sind. Das ist keine Show, es gibt den Wunsch, dass Frauen noch stärker am gesellschaftlichen Leben teilhaben.“

Fakt ist aber auch: Der patriarchalische Staat und das Vormundschaftssystem existieren weiter. So können Frauen bei „Ungehorsam“ gegenüber ihrem männlichen Vormund nach wie vor inhaftiert werden. Aktuell arbeiten 93 Frauen in Spitzenpositionen (CEO, Vorstand) von Sportverbänden. In 36 Sportarten gibt es zudem eine Frauen-Nationalmannschaft.

Dass die WM 2034 in diesem umstrittenen Land stattfindet, war für bin Salman ein großer Erfolg. An den Tag der Vergabe erinnert sich Bade ganz genau: „Das wurde hier wie ein Nationalfeiertag zelebriert. Es gab Autokorsos und Feuerwerk. Die Vorfreude ist riesig.“ Bade ist sich sicher, dass es eine ganz andere WM als die 2022 in Katar wird: „Die Saudis sind fußballverrückt. Bei den Topspielen herrscht eine europäische Atmosphäre mit Choreos, Gesängen und teilweise sogar Bengalos. Zu den Derbys kommen 60.000 Menschen ins Stadion. Das ist mit Katar nicht zu vergleichen.“ Der Zuschauerschnitt in der Saudi Pro League belegt das nicht. In der laufenden Saison kamen trotz Stars wie Ronaldo laut transfermarkt.de im Schnitt nur 8452 Fans ins Stadion.

Kein Alkohol

Die WM in neun Jahren wird in fünf Städten ausgetragen. Elf Stadien werden neu gebaut, vier modernisiert. Mehr als die Hälfte der Arenen wird in Riad stehen. Katar hatte beim Bau der Stadien wegen der katastrophalen Arbeitsbedingungen und vielen Todesfällen von Gastarbeitern große Kritik einstecken müssen.

Sons erwartet, dass wir in Saudi-Arabien „ähnliche Probleme sehen werden wie in Katar“. Er erklärt: „Das ganze Migrationssystem ist auf Ausbeutung ausgelegt, was aber auch an den Zuständen in den Entsendeländern liegt, die zu wenig für ihre Menschen tun. Das ist ein mafiöses, globales System. Es gibt Reformen auf dem Arbeitsmarkt, Stichwort Mindestlohn, Hitzeschutz usw. Das wird aber nicht ausreichen, um alle Missstände zu beheben. Es geht auch um die Kontrollen der Baustellen. Es gibt keine Gewerkschaften, keine Interessenvertretung für die Arbeiter in Saudi-Arabien. Die WM sollte genutzt werden, um größer und breiter über dieses Thema zu diskutieren.“ Katar hat allerdings gezeigt, dass eine WM an den Zuständen nichts ändert.

Diskussionen wird es vor dem Turnier wohl auch erneut um das Thema Alkohol (seit 1952 im Land verboten) geben. Stand jetzt wird es ein komplettes Verbot geben. Khalid bin Bandar, saudischer Botschafter in Großbritannien, sagte zuletzt: „Ähnlich wie unser Wetter ist es ein trockenes Land. Man kann auch ohne Alkohol viel Spaß haben – er ist nicht zu 100 Prozent notwendig, und wenn man nach der Abreise trinken möchte, kann man das gerne tun, aber im Moment gibt es keinen Alkohol.“

Wer das Alkohol-Verbot missachtet, kann von Glück sagen, wenn er mit einer Geldstrafe davonkommt. Auch Haft und Ausweisung sind möglich. Fußball-Fans sollten gewarnt sein.

Der Text wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, SPORT BILD, BILD) erstellt und zuerst in SPORT BILD veröffentlicht.

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