Mittlerweile sind auch Standardsituationen eine Spezialität im DFB-Team. Dafür mitverantwortlich: Kapitän Joshua Kimmich, der eine beeindruckende Statistik vorweisen kann. Der Wandel des Bayern-Stars erzählt auch etwas über die Nationalelf.
Spätestens um 22:40 Uhr weiß die Welt sicher, ob die italienische Fußball-Nationalmannschaft nicht vielleicht doch in die Vergangenheit reisen kann. Allerdings sollten sich Physikerinnen und Physiker nicht allzu große Hoffnungen machen. Bundestrainer Julian Nagelsmann meldete schon im Pressesaal des Dortmunder Westfalenstadions große Zweifel an: "Ich glaube nicht, dass Italien irgendwo eine Zeitmaschine hat, um noch einmal acht Einheiten zwischenstreuen zu können."
Schließlich reichen die zwei Tage nach dem 2:1 (0:1)-Erfolg der DFB-Elf im San Siro nicht, um große Überraschungen einzustudieren. Mit der Reiserei und der Regeneration ist die Zeit einfach zu knapp. Deshalb erwartet Nagelsmann für das Rückspiel im Nations-League-Viertelfinale in Dortmund (20.45 Uhr/RTL und im Liveticker bei ntv.de) "sehr viele Dinge, die wir in Mailand gesehen haben". Letzte Hoffnungen auf ein Physik-Wunder begrub Italiens Nationalcoach Luciano Spalletti bei seiner Pressekonferenz am Abend, er werde nach Donnerstag nicht alles umwerfen.
Umgekehrt bedeutet das, dass auch die Italiener sich auf schon Bekanntes vorbereiten müssen: nämlich auf Joshua Kimmich und seine gefürchteten Flanken. Schließlich hat der DFB-Kapitän im Hinspiel beide deutschen Tore mit hohen Bällen vorbereitet - erst auf Tim Kleindienst (der im Rückspiel beginnen wird) und dann auf Leon Goretzka, der damit sein Kitsch-Debüt perfekt machte. "Wir müssen auf die Standards aufpassen", sagte Innenverteidiger Alessandro Buongiorno am Samstagabend. Und schob hinterher: "Es sollte aber nicht zu einer Obsession ausarten."
"Fußball ist wichtig, aber ..."
Vielleicht wäre das aber doch nicht schlecht. Denn das DFB-Team hat einen in den eigenen Reihen, dessen hohe Bälle fast immer gefährlich werden. "Ich glaube nicht, dass es in Europa einen zweiten Spieler gibt, der aus dem Stand so scharfe und präzise Flanken schlägt", sagte Nagelsmann über Kimmich nach dem Hinspiel. Mit Folgen: Denn seit seinem Debüt vor fast zehn Jahren hat Kimmich gleich 13 der 27 DFB-Kopfballtore vorbereitet. Das ist also fast jedes zweites, eine imposante Statistik. Die auch den DFB-Kapitän selbst überrascht. "Das war mir jetzt nicht so bewusst", sagte Kimmich darauf angesprochen.
Alleine diese Statistik erzählt mehrere Dinge über Kimmich und die auferstandene DFB-Elf. Unter Nagelsmann setzt die Nationalelf zum einen wieder auf klassische Mittelstürmer. Mit den dribbelstarken Jamal Musiala, Florian Wirtz und Kai Havertz steht aber immer ein "Notfallplan", der ja eigentlich ein Weltklasseplan ist, zur Verfügung. Und die beeindruckenden Zahlen sind ein weiteres Indiz, dass Kimmich absolut unverzichtbar. Dabei liegen hinter beiden Seiten Jahre, die sich durchaus als kompliziert bezeichnen lassen.
Lange galt Kimmich als der übereifrige Ehrgeizling. Niederlagen nahm er persönlich. Seine Position war immer ein Politikum, die Schlüsselfrage für jeden Bundestrainer. Mittelfeldzentrale oder rechte Verteidigung? Mit der Debatte wurden viele Zeitungsseiten und Kolumnen von Ex-Profis gefüllt. Kimmich selbst stellte immer den Anspruch, möglichst viel Verantwortung zu übernehmen, das vereinfachte es nicht.
Umso überraschender, dass die Dinge so viel einfacher geworden sind. Kimmich ist deutlich gelassener geworden, nimmt Pleiten nicht mehr persönlich. Seine vier Kinder hätten seinen Blick auf die Welt verändert, erzählte er dem "Stern" nach dem EM-Aus. "Wenn mein Sohn beim Fußball auf dem Boden sitzt und weint, denke ich: Hey, nimm's nicht so schwer, steh einfach wieder auf, weiter geht's. Und zugleich fühle ich mich an früher erinnert. Ich war genauso, dieser Ehrgeiz, dieses Nicht-verlieren-Können. Bloß, dass das bei mir mit der Kindheit nicht aufgehört hat, sondern viele Jahre so weiterging." Er wirkt heute viel gefestigter. "Fußball ist wichtig, aber ich definiere mich nicht mehr alleine über meinen Beruf", sagte er.
Das war nicht immer so: Nach der Weltmeisterschaft 2018 und dem ersten Gruppenaus in der langen Geschichte des DFB war er wochenlang nicht zum Bäcker gegangen, weil er sich persönlich für die Blamage verantwortlich machte. Auch das zweite WM-Debakel, vier Jahre später in Katar, ging Kimmich äußerst nahe. Er sagte damals, er habe Angst, in ein tiefes Loch zu fallen und dass er sich innerlich leer fühle. Die Niederlagen der ganzen Fußball-Generation um Leon Goretzka, Niklas Süle und Co. lasteten auf ihn.
Zudem wurde ihm auch öffentlich viel Unrecht getan. Da waren die Debatten um seine Entscheidung gegen eine Corona-Impfung. Ex-Bayern-Trainer Thomas Tuchel demontierte ihn öffentlich, als er ihm die Eignung absprach, ein Sechser zu sein. Ein Wechsel schien nicht mehr ausgeschlossen. Und jüngst machte er dann Schlagzeilen mit dem langen Vertragspoker beim deutschen Rekordmeister. Kimmich, der das finanziell wohl schlechtere Bayern-Angebot wählte, wurde Gier als treibendes Motiv vorgeworfen. Dabei wollte er einfach die richtige Entscheidung treffen.
Spanien, Italien und Argentinien
Und dennoch: Es ist nicht so, dass er sich von Grund auf geändert hat. Kimmich bleibt Kimmich. Ehrgeizig ist er nach wie vor, aber nun in einem gesunden Maße - zur Freude seines Trainers. "Ich liebe es einfach, wie er immer an die Grenze geht und gewinnen will. Er ist unermüdlich, gibt immer Gas, versucht immer, dass wir das Spiel irgendwie gewinnen", lobte Nagelsmann. Der Bundestrainer finde es bei seinem Kapitän beeindruckend, "was er für eine Einstellung hat".
Für Nagelsmann ist Kimmich vor allem deshalb so wichtig, weil er für etwas steht, was der Bundestrainer unbedingt in der DFB-Elf etablieren will: ein neues Selbstverständnis. In fast jeder Pressekonferenz betont Nagelsmann, dass er jedes Spiel gewinnen will. Die Vorbilder sind klar: Spanien, Argentinien und auch Italien, die jüngsten EM- und WM-Sieger, sind allesamt mit langen Serien von ungeschlagenen Spielen in die Turniere gegangen. Es ist das, was der DFB-Elf in den späten Löw-Jahren abhandengekommen war und bis auf die Anfangszeit von Hansi Flick nicht mehr wiedergefunden wurde. Jetzt ist das anders: Im Kalenderjahr 2024 verlor die DFB-Elf nur das EM-Viertelfinale gegen Spanien.
Und für seinen Plan braucht Nagelsmann auch Kimmich - und das auf der ehemals ungeliebten Rechtsverteidiger-Position. Denn dort braucht ihn der Bundestrainer, obwohl sein Kapitän derzeit beim FC Bayern als Sechser aufblüht. Es gibt dafür einen einfachen Grund: Es gibt weit und breit niemanden, der Kimmich das Wasser reichen kann. Und auch von dort schafft Kimmich es, entscheidenden Einfluss auf das DFB-Spiel zu nehmen - obwohl er weiter von den gefährlichen Zonen des Spielfelds weit entfernt ist. Die Umstellung sei nicht einfach, räumte Kimmich bei RTL ein. Trotzdem gelingt sie ihm.
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