Niko Kovac hatte kaum noch eine Stimme. Er sei bereits seit Tagen angeschlagen. „Das Spiel hat es nicht besser gemacht, wenn man gegen 40.000 ankämpfen muss“, sagte der Trainer von Borussia Dortmund. Es hatte ihn schwer gestresst – genauso wie die Tage zuvor mit all den Turbulenzen: mit der desaströsen Leistung seiner Mannschaft beim 0:1 gegen Augsburg, den lauten Pfiffen der Fans und den vernichtenden Kritiken der Medien.

Doch an Mittwochabend in Lille hatte sich das Leiden für Kovac gelohnt. „Gratulation, großes Spiel, Kompliment an meine Mannschaft, ein mehr als verdienter Sieg“, erklärte er nach dem 2:1 (0:1) im Rückspiel des Achtelfinales der Champions League beim OSC Lille. Der BVB, der beim Hinspiel eine Woche zuvor eine 1:0-Führung verspielt hatte und über 1:1 nicht hinausgekommen war, drehte diesmal einen Rückstand und wartete mit einer von vielen nicht für möglich gehalten Leistungsexplosion auf. Was für ein krasser Kontrast: Die Dortmunder, die wenige Tage zuvor noch als die größte Enttäuschung der Bundesligasaison hingestellt worden waren, stehen unter den besten acht Mannschaften Europas – und treffen im Viertelfinale auf den FC Barcelona.

„Die Art und Weise, wie wir dieses Spiel über 90 Minuten gespielt haben, war beeindruckend, war toll, war klasse“, sagte Kovac. Er klang dabei fast wie die alte britische Bluesröhre Joe Cocker. Überschwänglich lobte er seine Mannschaft, der er noch vier Tage zuvor die Bereitschaft abgesprochen hatte, die sogenannten „Basics“, das kleine Einmaleins des Fußballs auf den Platz zu bringen. Und er hatte recht: Denn der BVB lief sich in Lille die Lunge aus dem Leib und ähnlich leidenschaftlich wie in der vergangenen Saison, als sie es sogar bis ins Finale der Königsklasse geschafft hatten.

Eine Geste mit Symbolcharakter

Normal ist das nicht, dachten sich auch wohl die etwa 3000 mitgereisten Fans, die ihre „Lieblinge“ noch am Samstag wohl am liebsten mit Schimpf und Schande aus dem eigenen Stadion gejagt hätten. Diesmal feierten sie das Team. Seltsame Zeiten – für Spieler wie Anhänger.

„Ich bin sehr, sehr erleichtert“, sagte Emre Can, der von der Uefa zum „Man of the Match“ gekürt worden war. Dann berichtete der Mannschaftskapitän freimütig, wie groß seine Genugtuung sei. „Das darf man ja eigentlich nie sagen“, verriet er. Doch er habe vor dem Spiel daran gedacht: „Die meisten Menschen glauben nicht mehr an uns. Sie denken: Wir werden hier heute scheitern“, so Can. Und es sah ja zunächst tatsächlich auch danach aus. Als Karim Adeyemi nach fünf Minuten einen Ball verlor und der erste Angriff der Franzosen Richtung Dortmunder Tor rollte, kam es zu einer Verkettung individueller Fehler – an deren Ende schließlich Torhüter Gregor Kobel den Schuss von Jonathan David durch die Beine kullern ließ.

Doch diesmal reagierte der BVB nicht so, wie er es so häufig in der Bundesliga getan hatte. Er rappelte sich wieder, erspielte sich Chancen. In der Halbzeitpause, als Dortmund trotzdem immer noch zurücklag, sei noch einmal ein Ruck durch das Team gegangen. „Da haben wir uns gesagt: `Ey, wir gehen jetzt da raus, laufen sie an, hauen ihnen eins rein – und dann wollen wir doch mal sehen, was passiert“, sagte Can. Die Folge war eine der stärksten Halbzeiten seit langem: Der BVB setzte Lille mit aggressivem Pressing unter Druck. Can verwandelte einen von Serhou Guirassy herausgeholten Strafstoß zum Ausgleich (56. Minute) – neun Minuten darauf dreht Maximilian Beier mit einem traumhaften Schuss in den Winkel dann die Partie.

Gegen Ende des Spiels, in dem die Dortmunder nie den Fuß vom Gas nahmen, kam es zu fast schon rührenden Szenen. Als Beier und Julian Brandt, der zuletzt formschwache Spielmacher, der für einige als Sinnbild der Krise galt, ausgewechselt wurde, eilte Can zu ihnen und umarmte sie. „Es ist doch unglaublich, wie viel Maxi heute gelaufen ist. Und zu Julian: Er hat nach schwierigen Wochen ein richtig gutes Spiel gemacht. Wir müssen ihn stärken. Der Junge ist nicht allein“, sagte der Kapitän.

Diese Geste gibt einen Fingerzeig, worin der entscheidende Unterschied zwischen den vielen Nicht-Leistungen der Dortmunder in der Bundesliga und den starken Auftritten in der Champions League liegt, wo bereits sieben Siege eingefahren werden konnten. „Wir sind als Team aufgetreten, wir haben uns als Team da herausgekämpft“, sagte Kovac. Der Spirit habe gestimmt, die Einstellung, die Intensität – all das, was der Mannschaft zuletzt mehrfach abgesprochen worden war.

Doch es ist schwer zu verstehen, wieso auf einmal gelingt, was zuvor außerhalb der Reichweite schien. Die Wandlung konnte auch keiner der Spieler so richtig erklären. Falls der eine oder andere Fan am Dienstag vor dem Fernseher gesessen und sich verwundert die Augen gerieben haben sollte, dann könne er das „gut verstehen“, sagte Kobel. „Aber ich kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass es nicht in der Absicht irgendeines unserer Spieler liegt, jemanden zu verarschen“, so der Keeper. Jedem sei bewusst, dass die Fans in der laufenden Saison oft enttäuscht worden sind. „Doch ich denke, gerade an solchen Abenden sieht man auch, dass wir gewillt sind, etwas zurückzugeben. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir im Champions League-Finale waren und jetzt schon wieder im Viertelfinale stehen“, erklärte Kobel.

Schwierig wird es nur, wenn es darum geht, aus dieser wechselhaften Saison Ableitungen zu ziehen – im Hinblick auf die Zukunft. Was ist denn nun der Standard dieser Mannschaft? Platz zehn in der Bundesliga? Oder doch die regelmäßig überzeugenden Auftritte in der Champions League? Sollte es einen radikalen Schnitt geben oder sollte man weiterhin vertrauen, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis dieses zweifellos veranlagte Team zu Konstanz findet?

„Das ist eine sehr prinzipielle Frage“, sagte Lars Ricken – und lächelte. Er bat um Verständnis, sich mit diesem Thema an diesem Abend nicht beschäftigen zu müssen. Der Geschäftsführer Sport wollte „den Sieg genießen. Das war schließlich kein Selbstläufer, wenn man sieht, aus welcher Situation wir kommen.“

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke