An diesem Freitagabend beginnt in England eine neue Fußball-Ära. Mit Thomas Tuchel wollen die "Three Lions" endlich wieder große Titel gewinnen. Der Trainer gesteht, "nervös" zu sein und muss sich direkt mal für Sätze über Englands EM-Aus erklären.

Es beginnt, wie damals beim FC Bayern. Thomas Tuchel ist schockverliebt in sein neues Team. Nur nutzt er dieses Mal andere Wörter, um seine Faszination für Englands beste Fußballer zu beschreiben. Sie sind allerdings kaum weniger Superlativ getränkt. "Sie haben mich beim ersten Mittagessen und in der ersten Trainingseinheit daran erinnert, warum ich so begeistert von dem Job war - ihretwegen." Und einmal auf Cloud 9 angekommen, hörte es gar nicht mehr auf: "Sie haben sich hervorragend verhalten. Auf dem Spielfeld waren sie fantastisch, wir hatten qualitativ hochwertige und sehr scharfe Trainingseinheiten. Jeder war bereit, sein Bestes zu geben, es herrschte eine gute Energie und eine gute Atmosphäre." Tuchel wählt die großen Worte für seine große Mission.

Der deutsche Trainer tritt an, um aus den jaulenden Kätzchen Englands endlich wieder kraftvoll brüllende Löwen zu machen. Seit 59 Jahren wartet die Nationalmannschaft auf einen großen Titel. In den vergangenen Jahren waren sie häufiger nah dran gewesen - und immer wieder gescheitert. Dabei sehnen sie "no more years of hurt", nicht erst seit der traurig-schönen Hymne der Lightning Seeds von 1996 so sehnsüchtig herbei, dass sie nun auf die Expertise eines Deutschen (!) vertrauen. Das ist eine gigantische emotionale Herausforderung und nicht jeder auf der Insel ist begeistert. Nach Bekanntwerden des Deals ging es hoch her. Die "Sun" forderte: "Der englische Fußball sollte den explosivsten, dynamischsten, charismatischsten und unmöglich groß und schlaksigsten Trainer, der je in der Premier League für Furore gesorgt hat, wieder willkommen heißen." Die "Daily Mail" wütete in aller Deutlichkeit: "England muss bis zum letzten Mann im Trikot englisch sein. Wir brauchen keinen Thomas Tuchel, sondern einen Patrioten, für den das Land an erster, zweiter und dritter Stelle steht."

Aber der Zweck heiligt auch im Mutterland des Fußballs die Mittel. Und Erfolg lindert überall auf der Erde den Schmerz. Die Gesetze des Fußballs sind weltumfassend. Die Rahmenbedingungen für Tuchels an diesem Freitag mit dem ersten Anpfiff endgültig startenden Engagement klar umrissen.

Doppeltes EM-Drama für Southgate

Im Sommer 2021, bei der Corona-EM, weinten die Engländer mit ihren Tränen die Londoner Themse voll. Im Finale in Wembley unterlagen sie Italien im Elfmeterschießen. Trainer Gareth Southgate hatte seine Youngster schießen lassen und wurde bestraft. Der Coach hatte das Elfmeterschießen zu einer Wissenschaft gemacht - aus dem eigenen Schmerz. 1996 hatte er gegen Deutschland im EM-Halbfinale in Wembley den entscheidenden Elfmeter in die Arme von Andreas Köpke geschossen. Er wollte das nie wieder fühlen. Und tat es doch. Im vergangenen Jahr führte Southgate England abermals ins Finale, in Berlin waren die Spanier aber zu stark.

Warum England überhaupt im Finale stand, das wusste niemand. Auf grausame Weise hatte sich die Mannschaft durch das Turnier gelümmelt. Zweimal wurde der Spielort Gelsenkirchen mit dem Albtraum-Fußball penetriert. Zum Dank gab's direkt beim ersten Mal ein amtliches Verkehrschaos. England und Gelsenkirchen, das war keine ganz große Liebe. Abgesehen von den Bierpreisen fanden die Lions-Fans wenig Gutes am und im Ruhrgebiet.

Auch Tuchel staunte im vergangenen Sommer über England. Und sprach das nun vor seinem ersten Spiel aus. Das war eine mäßig gute Idee. Wie er im Nachgang feststellen durfte. Die Medien hatten sich in seine Sätze verbissen. Tuchel bekannte in einem ITV-Interview, auf eine entsprechende Frage, dass England bei der EM keinen klaren Spielstil gehabt habe. Was denn gefehlt habe? "Die Identität, die Klarheit, der Rhythmus, die Wiederholung von Spielmustern, die Freiheit der Spieler, die Ausstrahlung der Spieler, der Hunger." Tuchel befand in unmissverständlicher Deutlichkeit: "In meinen Augen hatten sie mehr Angst, aus dem Turnier auszuscheiden, als dass sie die Begeisterung und den Hunger hatten, zu gewinnen." Wer Tuchel bekommt, bekommt gnadenlose Ehrlichkeit. Das hat ihm in seiner Karriere indes nicht immer geholfen. Den FC Bayern laugte er aus, beim BVB hinterließ er einen großen Haufen Scherben.

Zurück nach England: In all den Jahren unter Southgate wirkte es, als würde er den tatenhungrigen Löwen an der Kette lassen. Bloß nicht zu wild werden. Dabei würde man so gerne wissen, was das englische Raubtier draufhat, wenn es denn ungehindert auf Beute-Jagd darf.

"Tuchel demontiert Southgates England"

Die "Daily Mail" sah eine "vernichtende Beurteilung". Der "Telegraph" schrieb: "Tuchel demontiert Southgates England". Beim "Daily Star" hieß es: "Tuchel kritisiert Southgates langweilige Taktik". Vor seinem ersten Spiel nun, es geht in der WM-Qualifikation in Wembley gegen Albanien (20.45 Uhr im Liveticker bei ntv.de), rechtfertigte er sich für seine knallharte Analyse: "Es war einfach mein Gefühl. Vor allem war es mein Gefühl, als ich vor dem Fernseher saß, lange bevor ich überhaupt wusste, dass ich hier verantwortlich sein könnte." Einen Gefallen hat er sich damit nicht unbedingt getan: Denn wer so vom Leder zieht, der muss es erstmal besser machen.

Es ist nicht der erste Wirbel, den Tuchel in diesen Tagen verursacht. Dabei wussten sie doch aus seiner Zeit beim FC Chelsea schon, was sie erwarten würde. Bereits seine erste Kadernominierung hatte für Diskussionen gesorgt. Unter anderem wegen der Rückholaktion von Mittelfeldmann Jordan Henderson und Angreifer Marcus Rashford - die beiden waren von Southgate aussortiert worden. Zudem überraschte der 51-Jährige mit Abwehrmann Dan Burn, der 32-Jährige von Newcastle United wurde erstmals für England berufen.

Tuchel weiß darum, dass die erste Bringschuld auf seinen Schultern liegt. Ein Deutscher als Retter von England, das ist halt nichts, woraus sich eine Blitz-Euphorie entwickelt: "Wir müssen abliefern, ich muss abliefern – den Leuten zeigen, dass sie an mich und das Projekt glauben können", sagte Tuchel vor dem Spiel im mit 90.000 Zuschauern ausverkauften Wembley-Stadion und bekannte, "nervös" zu sein. "Das ist unser Job, jetzt und in Zukunft." Die soll den WM-Titel bringen. Dieses Ziel treibt ihn an. "Ich bin hier, um einen weiteren Stern auf das Trikot zu setzen", soll er dem "Telegraph" zufolge in seiner ersten Ansprache vor dem Team gesagt haben. Später sagte er, dann ganz offiziell: "Wir müssen jeden einzelnen Tag nutzen und sicherstellen, dass wir auf dem Punkt da sind", sagte er: "Wenn wir das tun, wird sich der letzte Schritt hoffentlich von selbst erledigen."

"Eine Aura, die ich noch nie erlebt habe"

Und das Team ist bereits restlos überzeugt vom neuen Chef an der Seitenlinie. Mittelfeldstar Morgan Rogers, der bei Aston Villa unter Unai Emery trainiert und bei Manchester City mit Pep Guardiola zusammen gearbeitet hat, ist völlig aus dem Häuschen. Tuchel habe eine "Aura, die ich noch nie erlebt habe. Es ist schwer zu beschreiben, aber er hat ein solches Maß an Selbstvertrauen. Er ist so entspannt und ruhig. Aber wenn es Zeit ist zu arbeiten, dann ist es Zeit zu arbeiten." Harry Kane, ebenfalls erfahren auf höchstem Niveau, ist ebenfalls kaum zu bremsen in seiner Begeisterung: "Thomas bringt viel mehr Energie und Enthusiasmus mit, er ist sehr leidenschaftlich, wenn er spricht. Er war einer der Hauptgründe, warum ich überhaupt zu Bayern München gegangen bin. Ich kenne seine Eigenschaften und weiß, wie gut er als Trainer ist, und alle Jungs sind von ihm beeindruckt."

Tuchel will England aber nicht nur Titel bringen, sondern auch Spektakel. Das lieferte Southgates vornehmlich auf Ergebnisse ausgerichteter Beamtenfußball nicht. Trotz Kane, trotz Phil Foden, Jude Bellingham oder Bukayo Saka. "Ich hoffe so sehr, dass sie sehen können, was ich jeden Tag sehe. Was ich in den letzten Tagen gesehen habe, war erstaunlich und es war einfach eine Freude, zuzusehen und dabei zu sein", sagt der Trainer: "Hoffentlich können wir diese Energie und diesen Hunger in das Spiel mitnehmen." Er will England ohne Angst, mit Freude, einer Gier auf Siege und ständigen Attacken von der Kette lassen. Er will alles anders machen als Southgate.

Auch bei der Hymne. Die wird er nicht mitsingen. Er spüre, dass er sich "das Recht, sie zu singen, erst verdienen muss", sagte Tuchel, "weil sie so bedeutungsvoll, emotional und kraftvoll ist". Er wartet darauf, dass ihm die Engländer dies offiziell gestatten. Tuchel will "ein Gefühl erzeugen, bei dem vielleicht sogar ihr irgendwann sagt: Jetzt ist es an der Zeit. Jetzt ist er einer von uns.

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