Genießen und ein bisschen innehalten ist für einen Handballprofi während der Saison kaum vorgesehen. Bis zu 70 Spiele müssen durchgestanden werden, teils sind Partien im Drei- bis Vier-Tages-Rhythmus zu absolvieren. Insofern bildet die derzeitige emotionale Befindlichkeit von Timo Kastening eine absolute Ausnahme in der Branche. „Es ist tatsächlich so, dass wir den Moment genießen, auch mal Tabellenführer zu sein und mit attraktivem Handball zu überzeugen. Wir wollen das von Woche zu Woche so lange wie möglich hinauszögern“, sagt er. „Wir sind Leistungssportler, und wenn du auf Platz eins stehst, magst du natürlich auch so lange wie möglich dort bleiben.“
Kastening spielt seit 2020 für die MT Melsungen, nur Torhüter Nebojsa Simic und Rechtsaußen Dimitri Ignatow sind schon länger für den Verein aktiv. Den Wandel seines Klubs vom tristen Mitläufer zum ambitionierten Titelanwärter hat der 29-Jährige hautnah miterlebt. Seit dem siebten Spieltag führt der Verein aus der nordhessischen Provinz die Tabelle an und könnte nun die vermeintlichen Schwergewichte aus Flensburg, Kiel, Berlin oder Magdeburg in kurzfristige Schockstarre versetzen. Denn noch nie hat die MT irgendetwas Bedeutsames gewonnen – nun aber schickt sie sich an, deutscher Meister zu werden.
Eine echte Einheit auf dem Feld
Lange Zeit galt der Vorzeigeverein aus der 14.011 Einwohner zählenden Stadt als so etwas wie die Wohlfühloase im deutschen Handball. Dank des gleichsam im kleinen Standort ansässigen Hauptsponsors, die B. Braun Melsungen AG, konnte die MT schon viele Jahre lang gute Gehälter zahlen – doch der sportliche Gegenwert blieb meist aus. Bis auf das zweimalige Erreichen des deutschen Pokalfinales 2020 und 2024 sprang nicht sonderlich viel heraus.
Derlei Tristesse verleitete manch einen aus der Szene zu harter Kritik an dem Verein: „Ich finde es erschreckend, dass Melsungen viele deutsche Nationalspieler für viel Geld gekauft hat, aber die Mentalität im Verein nicht mitgewachsen ist“, sagte etwa Füchse-Geschäftsführer Bob Hanning im Sommer 2021 über den Mitkonkurrenten. „Es hat sich kein Spieler, seit er in Melsungen ist, verbessert. Im besten Fall haben sie stagniert.“
Die Generalabrechnung hat auch Kastening seinerzeit mitbekommen – für falsch hält er sie bis heute nicht: „Bob hat mit seiner Aussage vermutlich darauf abgezielt, dass in Melsungen hohe Gehälter gezahlt worden sind. Und was dann sportlich dabei herumkam, lässt den Eindruck erwecken, dass man hier den Himmel auf Erden hat, den ganzen Tag die Füße hochlegen kann und zufrieden mit dem ist, was man hat“, sagt er im Gespräch mit WELT. „Ich habe das allerdings immer mit einem Schmunzeln zur Kenntnis genommen. Man weiß bei Bob ja, dass er manchmal Lust hat zu pöbeln. Ich glaube aber, dass er mittlerweile anders darüber denkt.“
In der Tat hat sich ein beeindruckender Wandel bei der MT – die beiden Buchstaben stehen für Melsunger Turngemeinde von 1861 – vollzogen. Gute Gehälter zahlen sie dort noch immer, aber inzwischen steht auch eine echte Mannschaft auf dem Feld, die in jedem Spiel an ihre Leistungsgrenze geht und sportlich harmoniert.
Eng verbunden ist dieser Transformationsprozess mit dem Trainer Roberto Garcia Parrondo. Der Spanier darf schon seit 2021 sein Glück versuchen, brauchte aber eine gewisse Zeit, um seinen Spielstil zu implementieren und das Team auf Erfolg zu trimmen. Nun scheint alles endlich zu fruchten.
Dass Konstanz auf der Trainerposition wichtig ist, hat auch Michael Allendorf erkannt. Der frühere Linksaußen war bis 2022 zwölf Jahre Spieler bei der MT, danach wurde er Manager, inzwischen ist er Sportvorstand. „Gerade in meinen letzten Jahren als Spieler haben wir sehr viele Trainerwechsel gehabt, und vor allem die Art und Weise der einzelnen Trainer hat sich sehr unterschieden. Da konnte man sich als Mannschaft schwer auf etwas einstellen, was man umsetzen kann“, erklärt er WELT.
„Als ich dann den neuen Job als Manager übernommen habe, war für mich klar, dass wir einerseits einen sehr guten Trainer brauchen, den wir in Parrondo gefunden haben. Und dass er auf der anderen Seite eben auch die entsprechende Zeit braucht. Da mussten wir eine gewisse Geduld mitbringen. Es ist auch kein Geheimnis, dass es schon große Kritik gab, als wir 2023 mit fünf Niederlagen am Stück aus der Winterpause gestartet sind. Da haben einige den Trainer infrage gestellt. Aber von mir hat er die Rückendeckung bekommen, weil ich wusste, dass wir etwas Geduld mit ihm haben müssen, damit wir irgendwann Erfolg haben.“
Verbotene Gedankengänge
Am Ende hat sich Allendorfs Hartnäckigkeit ausgezahlt. Mit Platz fünf gab es im vergangenen Sommer die zweitbeste Platzierung seines Vereins seit dem Aufstieg in die Bundesliga 2005 zu bejubeln.
Nun könnte am Ende dieser Spielzeit der absolute Coup folgen – auch wenn der Sportvorstand offiziell davon noch wenig wissen mag. „Wir beschäftigen uns mit dem Thema Meisterschaft überhaupt nicht“, versichert Allendorf. „Man muss ja nur mal auf die Tabelle gucken, von Platz eins bis vier liegen die Vereine gerade mal zwei Punkte auseinander. Von daher sind solche Gedanken aktuell nicht angebracht. Ob wir mit dem kleinen Kader, den wir nach den Verletzungen haben, weiter oben bleiben können, müssen wir erst mal sehen.“
Zuletzt gab es tatsächlich einige üble Ausfälle zu beklagen. Der Halblinke Aaron Mensing riss sich in der Partie beim Rekordmeister THW Kiel vor knapp zwei Wochen die rechte Achillessehne. Zuvor waren schon Amine Darmoul (Kreuzbandriss), Alexandre Cavalcanti (Rückenprobleme), Arnar Freyr Arnarsson (Blessur im Oberschenkel) und Elvar Örn Jonsson (Muskelverletzung) ausgefallen.
Für Kastening ist dies allerdings kein Umstand, Trübsal zu blasen. „Ich habe mir vor der Saison geschworen, dass ich nicht über Verletzte jammern werde“, sagt er. „Meine Prämisse ist immer: Egal, in welcher Konstellation wir auf der Platte stehen – wir haben immer eine Chance auf den Sieg.“ Denn dank der deutlich erkennbaren Handschrift des Trainers greife bei der MT inzwischen auch ohne das Mitwirken einiger Spitzenspieler „ein Rädchen ins andere“.
Jene Herangehensweise hat den Klub bis dato weit gebracht. Neben der Tabellenführung gibt es auch den Einzug ins Final Four um den Pokal des Deutschen Handballbundes (DHB) zu feiern, wo am 12. April die HBW Balingen-Weilstetten als Gegner im Halbfinale wartet. Zudem ist die MT auch international noch im Rennen: Am 25. März und 1. April geht es im Play-off der European League gegen Altmeister VfL Gummersbach um die Viertelfinalteilnahme.
Und nebenbei war der Verein auch auf dem Transfermarkt äußerst erfolgreich. Spätestens im Sommer 2026 kehrt Nationalmannschaftskapitän Johannes Golla zu dem Klub zurück, bei dem er 2016 seine ersten Schritte als Profi vollzog. Einigen sich die SG Flensburg und die MT auf eine kolportierte Ablöse von rund 600.000 Euro, könnte der verlorene Sohn gar ein Jahr vor seinem Vertragsende die Seiten wechseln. Golla galt als einer, der von nahezu allen europäischen Topvereinen umworben worden war. Dass die MT den Zuschlag erhielt, dokumentiert eindrucksvoll die neue Strahlkraft des Klubs.
Wohin dieser Imagewandel auch ohne den Noch-Flensburger im weiteren Saisonverlauf führen kann, ist eine mehr als spannende Frage. Allendorf jedenfalls mag sie aktuell noch nicht beantworten. „Ob es am Ende der Saison etwas Großes zu feiern gibt, müssen wir noch abwarten“, sagt er. „Was mich froh stimmt, ist die aktuelle Situation, weil unsere Mannschaft in einem Großteil der Spiele tolle Leistungen gezeigt hat und auch als wirkliche Einheit aufgetreten ist.“ Die Mentalität nach den ganzen Rückschlägen durch die jüngst zu verzeichnenden verletzungsbedingten Ausfälle sei sehr stark gewesen, so der 38-Jährige.
Auch Kastening mag vor dem letzten Saisondrittel noch keine genaue Prognose abgeben – und spricht damit aus, wie sich auch die Kollegen derzeit geben. „Es ist definitiv bei uns in der Kabine nicht so, dass dort irgendjemand über den Meistertitel redet“, erklärt der Nationalspieler. „Dass man aber als Sportler und Mensch im Kopf so ein paar Konstellationen durchgeht und an die Meisterschaft denkt und was das für den Verein und einen selbst bedeuten würde – ich glaube, das darf auch mal zugelassen werden.“
Jens Bierschwale ist Sportredakteur bei WELT. Er berichtet unter anderem seit vielen Jahren über Handball und war bei zahlreichen Großturnieren in dieser Sportart als Reporter vor Ort.
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