Dass Andreas Wellinger und Marius Lindvik gemeinsam bei einer Skisprung-Siegerehrung grinsen, wird so schnell nicht mehr passieren. Ging es nach dem deutschen Olympiasieger, würde er nach dem gewaltigen WM-Skandal um manipulierte Anzüge in den nächsten Wochen gerne komplett auf seine Widersacher aus Norwegen verzichten.
„Ich habe eigentlich wenig Lust, einem Norweger auf der Schanze zu begegnen. Nicht weil einer explizit persönlich etwas dafür kann, sondern weil diese Manipulation von A bis Z so übers Ziel geschossen ist“, sagte Wellinger, der auf der Normalschanze Zweiter hinter Weltmeister Lindvik wurde. Wäre das eigentlich seine Goldmedaille gewesen? Das ist nur eine von vielen Fragen, die der Weltverband Fis in den nächsten Wochen beantworten muss.
Die vorsätzliche Anzug-Schummelei des Gastgebers bei der WM in Trondheim hat tiefe Spuren hinterlassen, wird die Skisprung-Szene lange beschäftigen – und zieht nun auch vonseiten der Fis Konsequenzen nach sich. Der Druck war zu groß geworden. Fünf Mitglieder des norwegischen Teams sind am Mittwochnachmittag vom Weltverband vorläufig gesperrt worden. Darunter sind die Top-Athleten Lindvik und Johann Andre Forfang sowie Teamtrainer Magnus Brevig, der Assistenztrainer Thomas Lobben und der Servicemitarbeiter Adrian Livelten.
Vor der Fortsetzung des Weltcups am Donnerstag (17 Uhr/ZDF und Eurosport) in Oslo stellt sich nun also nicht mehr die Frage, wie die Rivalen auf die massiv unter Betrugsverdacht stehenden Lindvik und Forfang reagieren müssen. Experten hatten bereits denkwürdige Bilder von verweigerten Glückwünschen auf einem Podium skizziert.
Norwegens Verband hatte allem zum Trotz zuvor Lindvik und Forfang für das Einzel wie selbstverständlich nominiert. Der 29 Jahre alte Wellinger hatte dafür wenig Verständnis gezeigt. „Das ist einfach mutwillig und eine Manipulation, die für alle anderen Skispringer, die versuchen, fair zu kämpfen, einfach eine Verarsche ist“, hatte er vor der Fis-Sperre der Norweger in der Sendung „Hangar-7“ von Servus TV gesagt.
Vermeintliche Bauernopfer reichen der Konkurrenz nicht
Doch wie sah die mutwillige Manipulation eigentlich aus? Anonyme Videos zeigen, wie in einer Loge im Stadion von Rosenborg Trondheim auf illegale Weise Anzüge bearbeitet wurden. Anzug auf, stabilisierendes Band rein, Anzug zu: So einfach operierten die Norweger an dem sensiblen Stoff, der im Flug so wichtig ist, herum. Und verschafften sich offenbar einen nicht unwesentlichen Vorteil.
Lindvik, der im Gesamtweltcup Rang 13 belegt, wurde plötzlich zum alles überragenden Springer der WM. Das aberkannte Silber dürfte er verkraften können, solange ihm die Titel mit dem Mixed und im ersten Einzel bleiben. Trainer Magnus Brevig und zwei weitere Mitwisser hat der Verband in den vergangenen Tagen suspendiert. Sämtliche Springer und Sportchef Jan Erik Aalbu sollen ahnungslos gewesen sein – so die Argumentation der Norweger.
Den anderen Verbänden reichen diese Erklärungen und ein paar vermeintlich einfache Bauernopfer nicht. „Es ist nur ganz schwer nachvollziehbar, dass jemand, wenn er schon dreimal ganz oben gestanden ist, erst beim vierten Springen noch einmal so viel riskiert, dass er erst dort einen Anzug umnäht“, sagte Österreichs Sportdirektor Mario Stecher. Genau das behaupten sie aber im norwegischen Verband.
Die Aufarbeitung ist vielschichtig und hat mehrere Dimensionen. Die wichtigsten Fragen:
Was passiert mit den WM-Ergebnissen?
Was passiert mit den WM-Resultaten von Trondheim, wo Norwegens Nordische reihenweise Titel abräumten? „Es ist definitiv Betrug. Doping ist vielleicht noch ein anderes Thema, aber es ist trotzdem ein krimineller Vorsatz irgendwo dahinter, wenn man die Videos gesehen hat“, sagte Kombinierer Vinzenz Geiger dem Bayerischen Rundfunk.
Bei einer Annullierung aller Ergebnisse wäre der bei der WM nur von Norwegern besiegte Geiger plötzlich vierfacher Weltmeister. Fis-Rennleiter Sandro Pertile sagte noch am Samstag, ein solcher Vorgang sei nicht absehbar. „Im Prinzip nicht. Wir haben ein System – wenn die Kontrolle fertig ist, ist sie fertig.“ Doch seither ist der Druck auf die Fis weiter gewachsen.
Wie reagiert die Fis?
Nach der Sperre der fünf Norweger wird wegen ihrer mutmaßlichen Beteiligung an Ausrüstungsmanipulationen beim Großschanzenspringen der Herren am vergangenen Samstag ermittelt. „Die Situation ist natürlich äußerst beunruhigend und enttäuschend“, sagte Fis-Generalsekretär Michel Vion. Man arbeite „unermüdlich daran, so schnell wie möglich eine umfassende und gründliche Untersuchung durchzuführen und gleichzeitig Fairness und ein ordnungsgemäßes Verfahren zu gewährleisten“.
Die fünf Norweger seien mit sofortiger Wirkung vorläufig von der Teilnahme an Fis-Veranstaltungen und an Veranstaltungen, die von einem nationalen Skiverband organisiert werden, suspendiert, bis das Ermittlungs- und Urteilsverfahren abgeschlossen ist, hieß es in der Mitteilung des Verbandes.
Auf Ersuchen der externen Ermittler habe die Fis am Dienstag alle Sprunganzüge beschlagnahmt, die von norwegischen Teams bei den Weltmeisterschaften in Trondheim 2025 getragen wurden.
Der Skandal hat bereits zuvor zu personellen Konsequenzen geführt. Teamtrainer Brevig und sein Assistent Lobben wurden auch vom norwegischen Verband suspendiert. Livelten musste ebenfalls gehen.
Was kann künftig geändert werden?
Die Verantwortlichen setzen auf Technik. Andreas Bauer als Chef der Fis-Materialkommission fordert neue Kontrollmethoden. „Bisher wird alles händisch überprüft, menschliche Messungenauigkeiten sind nicht auszuschließen. Wir müssen jetzt so schnell wie möglich auf die moderne Technik umsteigen und wie am Flughafen 3D-Scanner nutzen“, sagte Bauer der „Allgäuer Zeitung“ sowie den „Stuttgarter Nachrichten“ und der „Stuttgarter Zeitung“. Skisprung-Legende Sven Hannawald hatte ebenfalls für eine Maschine bei der Kontrolle plädiert.
Sind nur die Skispringer betroffen?
Das ist die große Frage. Bei Lindvik und Forfang wurde in einem Wettbewerb wissentlich betrogen, so viel hat der Verband öffentlich eingeräumt. Doch nicht nur die Skispringer zeigten bei der WM starke Leistungen auf der Schanze, sondern auch die Skispringerinnen und beide Kombi-Teams. Dass die Fis die Anzüge aller vier norwegischen Teams konfisziert hat, deutet zumindest auf ein gewisses Verdachtsmoment hin.
War es ein Einzelfall?
Geht es nach Norwegens Skisprung-Olympiasieger Daniel-André Tande, dann muss die Antwort wohl Nein lauten. Er jedenfalls räumte Betrug während seiner Laufbahn ein. „Absolut jeder macht es“, sagte der 31-Jährige dem norwegischen Rundfunk NRK zur Manipulation der Ausrüstung. „Ja, ich würde es wagen, zu sagen, dass ich das einige Male getan habe.“ 2018 in Pyeongchang hatte Tande Olympia-Gold mit der Mannschaft gewonnen.
Auch die früheren Skispringer Anders Jacobsen und Johan Remen Evensen räumten Manipulationen ein. „Es ist ein hartes Wort. Betrug. Aber ich kann nicht mit meiner Hand auf meinem Herzen sagen, es nicht getan zu haben“, sagte Jacobsen. „Denn wenn die Definition von Betrug ist, einen etwas zu großen Anzug zu tragen, dann habe ich betrogen.“ 2007 hatte Jacobsen die Vierschanzentournee gewonnen.
Dabei ging es nicht nur um illegale Veränderungen am Anzug, wie die Norweger berichteten. Auch Schuhe, Handschuhe und selbst die Unterwäsche werde manipuliert. Tande berichtete davon, dass die Norweger 2019 ihr zu dichtes Anzugmaterial mit einer Perforationsmaschine so verändert hätten, dass sie den Luftdurchlässigkeitstest bestanden. Laut Tande hätten das diverse Nationen getan, ein anderes Team hätte sich sogar die Maschine der Norweger ausgeliehen.
Die Hauptschuld sieht das Trio beim Weltverband Fis, der mit seinen Regularien die Springer zum Betrug anrege – und nicht immer konsequent durchgreife. „Der Grundsatz in dem Sport lautet, wenn du nicht erwischt wirst, hast du nicht betrogen“, sagte Evensen. „Das ist ein Problem der Einstellung, das sich durch die ganze Skisprung-Welt zieht.“
Das Problem sei die Fis, sagte Tande. Er behauptete, Kontrolleure würden sichtbare Manipulationen nicht beachten, damit man den richtigen Sieger habe. „Es ist das Beste für das Produkt, wenn in Norwegen ein Norweger gewinnt oder ein Österreicher in Österreich. Das ist allgemein bekannt“, meinte Tande.
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