Schlimmer könnte es für Bayer Leverkusen in diesen Tagen kaum laufen. Erst geht die Werkself im ersten Champions-League-Duell mit dem FC Bayern baden, dann verletzt sich Florian Wirtz so schwer, dass er wochenlang ausfällt. Was macht jetzt noch Hoffnung?
Xabi Alonso saß am Montagmittag auf dem Leverkusener Pressepodium und versuchte zuversichtlich zu klingen. Doch das gelang nur leidlich. Die vergangenen Tage und Stunden waren für die Meister-Fußballer von Bayer 04 Leverkusen die grausamsten der jüngeren, äußerst erfolgreichen Vereinsgeschichte gewesen. In München vollführte die Mannschaft einen Akt der Selbstzerstörung nach dem anderen, im Achtelfinal-Hinspiel der Champions League gab es eine 0:3-Packung gegen den FC Bayern, der urplötzlich wieder zu dem Giganten erwachsen war, der er dem eigenen Selbstverständnis zufolge ist, um sich dann am Samstag kurzfristig und maximalrotiert wieder zu verzwergen.
Gegen den VfL Bochum verlor der FC Bayern 2:3, nach 2:0-Führung und vergebenen Topchancen. So stand vor allem Trainer Vincent Kompany doof da, der zehn Wechsel angeordnet hatte. Aber für die Münchner war das alles fürchterlich egal. Denn auch Bayer Leverkusen patzte, das letzte "Verfolgerchen" in der Bundesliga. Werder Bremen nahm ein 2:0 aus der BayArena mit - und alle realistischen Resthoffnungen auf ein neues Fußballwunder an diesem Dienstagabend im Rheinland. Maßgeblich daran beteiligt war Mitchell Weiser. Der Bremer kam gegen Florian Wirtz zu spät und traf ihn dann so fatal, dass der Spielmacher mit einer Innenbandverletzung im rechten Sprunggelenk "mehrere Wochen" ausfällt. Das war alles viel schlimmer als die Niederlage gegen das Krisenteam von der Weser.
"Jetzt ist ein guter Moment"
Bis zu diesem Montagmittag hatte der amtierende Meister ein Geheimnis um den Zustand von Wirtz' Fuß gemacht. Aber weil er am Samstagnachmittag auf Krücken aus der eigenen Arena humpelte, war schon klar gewesen, dass es nicht gut um den 21-Jährigen steht. Und damit auch nicht um Bayer Leverkusen. Denn kein Spieler hat mehr Einfluss auf den Erfolg seiner Mannschaft als Wirtz. Seine Klasse am Ball, sein Auge für den Mitspieler, seine Unberechenbarkeit - der Wegfall dieses Gesamtpakets ist für Trainer Xabi Alonso nicht zu kompensieren. Wie er das nun auffangen will, sagte er nicht. Natürlich nicht. "Jetzt ist ein guter Moment zu zeigen, dass wir eine komplette Mannschaft sind und auch ohne Flo gewinnen können", sagte Alonso. Leverkusen spiele nun auch für Wirtz, "damit er in der Champions League noch spielen kann".
Aber was ist möglich? Ein 3-4-3, mit einem echten Neuner und zwei pfeilschnellen Außen? Ein aggressives Mittelfeldzentrum mit Granit Xhaka, der auch angeschlagen war, und Robert Andrich oder Ezequiel Palacios, flankiert von Schienenspielern wie Jeremie Frimpong und Alejandro Grimaldo? Alonso betonte lediglich, dass sein Plan stehe. Es gebe "keinen größeren Test, als morgen ohne Flo zu spielen", sagte der Spanier. Es sei eine Chance, "die wir vielleicht nicht noch einmal bekommen in unserer Karriere". Die Situation sei natürlich "schwierig", aber daraus entstehe "ab und zu etwas Episches".
Kimmich legt Wirtz im Hinspiel in Ketten
Im Hinspiel bekam der Spanier auf andere, schmerzhafte Weise aufgezeigt, wie ein Spiel ohne Wirtz funktioniert. Bayern Münchens Antreiber Joshua Kimmich war abgestellt, den unkontrollierbaren Wirtz zu kontrollieren. Das war eine "Mission Impossible", eigentlich. Dachte man. Doch Kimmich zeigte, dass das Unvorstellbare möglich ist. Sogar im Handumdrehen, denn nebenbei blieb dem Mittelfeldchef noch ausreichend Zeit, das eigene Spiel vorzüglich zu orchestrieren, mit feinen Chipbällen, und den Kollegen zu sagen, was sie zu tun haben. Kimmich war überall, Wirtz dagegen gefangen im Nirgendwo. Er haderte und winkte ab. Kapitän Granit Xhaka wollte sich zur Leistung des 21-Jährigen nicht äußern. "Nächste Frage", bellte der erfahrene Schweizer bloß.
Nun ist Wirtz gefangen im fußballerischen Nichtstun. Vor dem wichtigsten Spiel der Saison. Schlimmer könnte es für Leverkusen kaum kommen. "But it is not over until it is over", wie Xabi Alonso schon nach dem Hinspiel daher murmelte und damit irgendwie den Glauben an ein Wunder aufrechterhalten wollte. Von denen hatte er als Trainer der Werkself ja tatsächlich schon einige gebaut und erlebt. In der vergangenen Saison konnte nämlich passieren was wollte, Bayer hatte immer eine Antwort parat. Mit der einzigen Ausnahme Europa-League-Finale, als man gegen Atalanta Bergamo unterging.
Wann immer die Mannschaft ein kleines, mittleres oder größeres Fußballwunder brauchte, sie produzierte es. Die Produktionspläne waren die größte Sensation in Europa - doch irgendjemand hat sie verlegt. Die Produktion des Unmöglichen scheint zum Erliegen gekommen. Sollte die Maschine doch noch rechtzeitig in Gang kommen, die Geschichten, die über Leverkusen erzählt werden würden, sie wären gigantisch. Ein 0:3 aus dem Hinspiel gegen den FC Bayern gedreht! Und das ohne Florian Wirtz, den sogar in München manche trotz Jamal Musiala als besten Fußballer des Landes ausmachen! Hui, was wäre da los! Und noch mehr beim FC Bayern, dessen Saison dann wirklich in Trümmern liegen würde. Trotz der sehr, sehr, sehr wahrscheinlichen Meisterschaft.
Wovor soll sich der FC Bayern fürchten?
Das "Finale dahoam" ist das übergroße Ziel in dieser Saison. Davon träumen sie beim Rekordmeister. Es ist eine tief in die DNA des Klubs eingebrannte Sehnsucht, eine Besessenheit von der europäischen Krone, die ihnen zuletzt Supertrainer Hansi Flick im Corona-Sommer 2000 aufgesetzt hatte. Sollte ihnen das Ziel nun tatsächlich noch in Leverkusen aus der Hand gleiten, es wäre eine mittlere Katastrophe. Aber wovor sollen sie sich fürchten?
Vielleicht vor Xabi Alonso. Den hatten die Münchner um Trainer Kompany letzte Woche entzaubert. So war eine Lesart. Eine andere: Der Spanier hatte sich massiv verzockt mit seiner Aufstellung. Nordi Mukiele machte nicht nur wegen seines Platzverweises ein schwaches Spiel und hätte eigentlich früh ausgewechselt gehört (ja, später ist man immer schlauer). Amine Adli, der für den formstarken Nathan Tella spielte, war nach langer Verletzung nicht in der Lage auf dem höchsten Niveau mitzuhalten. Torwart Matej Kovar, der in der Königsklasse zwar meist spielt, leistete sich einen fürchterlichen Blackout und ist ein Kandidat für eine Rochade mit Liga-Stammkeeper Lukas Hradecky. Und dann war da erneut die Diskussion, warum nicht eine der verfügbaren Spitzenkräfte im Sturmzentrum, Patrik Schick oder Victor Boniface, von Beginn an spielen durfte.
Was war vor dem Spiel nicht alles zum Thema gemacht worden: Die Unbesiegbarkeit von Alonso gegen den FC Bayern, die Frage, wer die Nummer eins im deutschen Fußball ist und so weiter und so fort. Für den Trainer war das offenbar ein heftiger Wink mit dem Zaunpfahl, dass er etwas Großes, Magisches schaffen müsste. Doch sein Plan in München wurde von der eigenen Mannschaft und dem FC Bayern zerfetzt. Es schien, als sei dem Spanier im größten Moment der Saison das Gefühl abhandengekommen. Schon seit ein paar Wochen wirkt das Kollektiv in Leverkusen unruhiger als sonst. Stürmer Schick etwa rauschte nach dem 0:0 im Bundesliga-Topspiel gegen die Bayern nach einem Mini-Einsatz genervt durch die Katakomben. Auf dem Feld winken die Spieler häufiger ab als gewohnt. Passt ihnen der Plan von Alonso nicht mehr? Die Offensive war zuletzt tüchtig außer Tritt geraten. Gibt es erste frustrierte Risse nach dem Goldrausch? Oder es ist einfach nur Wut über zu viele kleine Misserfolge.
Zwei historische Wunder machen Bayer Hoffnung
Alonso muss es nun richten. Ohne Wirtz. Wann immer der Spielmacher gefehlt hatte, lief es für Bayer schlecht. Das Genies des ehemaligen Strategen ist dann wohl auch das, was die Bayern am meisten fürchten müssen - wenn sie überhaupt etwas fürchten. Statistisch müssen sie das nicht. 27 Mal führten die Münchner nach einem Hinspiel mit drei Toren, nie gaben diesen Vorsprung noch aus der Hand. Aber die Fußballgeschichte hat auch noch einen kleinen Mutmacher für Bayer parat: Vor 37 Jahren vergeigte Leverkusen erst Final-Hinspiel im UEFA-Cup. 0:3 hieß es damals bei Espanyol Barcelona. Doch dann gelang das Wunder. Nach 90 Minuten stand es 3:3 (in Summe), und im Elfmeterschießen wurden Torwart Rüdiger Vollborn und Klaus Täuber zu den Helden.
Eine weitere Mut machende Erinnerung: Das Finale der Champions League vor genau 20 Jahren. Im Istanbuler Atatürk-Stadion lagen Xabi Alonso und sein FC Liverpool zur Pause mit 0:3 hinten! Dann wurde die "Reds" zur Furie und glichen binnen sechs Minuten aus. Alonso traf zum 3:3 (60.), er verschoss erst einen Elfmeter und verwandelte dann gegen Nachschuss. Das war ein großer Moment, ein Wunder. Eines, wie es in Leverkusen in der vergangenen Saison so oft erlebt hatten. Und nun dringender denn je brauchen.
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