Keine Sportlerin hat öfter an Olympischen Winterspielen teilgenommen, niemand aus Deutschland hat dort mehr Medaillen gewonnen - und doch geht es bei Claudia Pechstein seit Jahren kaum noch um ihre Erfolge. Jetzt beendet sie ihre Karriere in einem außergewöhnlichen Rahmen.
Claudia Pechstein ist, das wird bei diesem Termin im tiefsten Südosten Berlin überdeutlich, eine besondere Sportlerin. Schon allein deshalb, weil die Eisschnellläuferin hier erst mit 53 Jahren verkündet, ihre große Karriere tatsächlich und endgültig und vor allem aus freien Stücken beenden zu wollen. Sie werde "die Schlittschuhe an den Nagel hängen", sagt Pechstein, und dann halten Lebensgefährte Matthias Große und Manager Ralf Grengel ihr wirklich ein Brett hin, um die Schlittschuhe daran aufzuhängen. Das Sprichwort sieht eigentlich nur einen Nagel vor, "aber wir sind etwas besonders, wir nehmen zwei", erklärt Pechstein und lächelt in die vielen Kameras, die in diesem Moment auf sie gerichtet sind.
Es ist der symbolische Abschluss einer Karriere, in der die Ausnahme-Athletin mit acht Teilnahmen an Olympischen Winterspielen und neun dort gewonnenen Medaillen Rekorde aufgestellt hat. Eine Karriere, deren Spätherbst aber von einem Streit geprägt ist, der vor wenigen Tagen nach mehr als 16 Jahren seinen überraschenden Abschluss gefunden hat. "Ich kann verstehen, dass Sie all das wissen wollen, was wir vereinbart haben", sagt deshalb auch Matthias Große in seinen einleitenden Worten über die Einigung zwischen der Pechstein-Seite und dem Eisschnelllauf-Weltverband ISU.
Die ISU hatte Pechstein 2009 wegen einer erhöhten Retikulozytenzahl gesperrt und dies mit einer "Anwendung der verbotenen Methode des Blutdopings" begründet. Daraus war ein scheinbar endloser Kampf vor verschiedenen Gerichten geworden, der am 27. Februar mit einer außergerichtlichen Einigung zwischen ISU und Pechstein beendet worden ist. Bei der Eisschnellläuferin wurde in der Zwischenzeit eine vom Vater vererbte Blutanomalie festgestellt. Die ISU sprach von einer "Versöhnung", auch "um sich auf die künftige Entwicklung des Sports konzentrieren zu können". Pechstein überschrieb den Beitrag auf ihrer Facebook-Seite mit dem Wort "Endlich". Wie diese Einigung im Detail aussieht, ist allerdings öffentlich nicht bekannt, denn sie beinhaltet eine Verschwiegenheitserklärung.
Der Freund heißt Ulli Wegner, der Feind ARD
"Auch wenn wir es rausschreien möchten, wir tun es nicht", betont Große, aber über das zur Einigung ergangene "Statement hinaus wird sich keine der beiden Parteien zum Inhalt äußern", und zwar "weil das dazu führen würde, dass der Deal nicht mehr der Deal ist". Dieser "Deal" fühlt sich für Pechstein, Große und Grengel, die zu dritt neben Champagner-Flaschen auf dem Podium Platz nehmen, wie ein Sieg an. Einerseits, weil sie das immer wieder nachdrücklich betonen und andererseits auch, weil sie sich laut Große einst vorgenommen hatten, zu "kämpfen, bis wir tot sind oder gewonnen haben". Und weil der Kampf ja nun offiziell versöhnlich beigelegt wurde und die Drei erkennbar lebendig dasitzen, liegt darin folglich ein Sieg: "Sie können davon ausgehen: Hier sitzen keine Verlierer."
Was Große neben spürbarer Freude auch dazu nutzt, gegen die zu schießen, die er unter "Feinde" zusammenfasst. Angeblich sind diese Pressekonferenz und auch die im späteren Verlauf angekündigte große Abschiedsparty im Berliner Wellblechpalast mit nicht näher bezeichneten "Weltstars" etwas, das "wir für unsere Freunde machen" - aber es fällt doch auf, wie sehr Große die Welt in Freund und Feind zu unterteilen scheint. Freunde, das sind Menschen, die Große in seinen Ausführungen immer wieder direkt mit Vornamen anspricht. Wie Boxtrainer-Legende Ulli Wegner, der ebenfalls ein paar Worte ins Mikrofon spricht und in Richtung Pechsteins betont, sie habe "einen Partner an deiner Seite, der kämpfen kann".
Mitunter übertreibt Große, der einst den Bundestag nicht betreten durfte, weil er Mitarbeitende von Politikern bedroht hatte, die sich kritisch über seine Lebensgefährtin geäußert hatten, diesen Kampf. Den bereits erwähnten "Feinden" - explizit wird unter anderem die ARD genannt, der Pechstein in den letzten Jahren ihrer aktiven Karriere reihenweise Interviews verweigert hat - gibt sich Große zwar versöhnlich gegenüber, betont dann aber doch immer mal wieder, wem er was übel nimmt. Den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) zum Beispiel nennt er "schäbig", weil dieser "seit dem Weggang von Alfons Hörmann" kein einziges Mal den Kontakt gesucht habe. Allerdings war Pechstein im Februar 2022 die Fahnenträgerin der DOSB-Delegation bei den Winterspielen in Peking.
Pechstein ärgert sich über Schlagzeilen, die sie nie gelesen hat
Hörmann hatte den DOSB von 2013 bis Ende 2021 angeführt und war dann infolge von Vorwürfen, im Verband eine "Kultur der Angst" geprägt zu haben, nicht mehr zur Wiederwahl angetreten. Große hatte die Initiatoren eines offenen Briefs gegen Hörmann als "Denunzianten" und "feige Heckenschützen" mit "niederen Motiven" beschimpft - der Investigativjournalist Jens Weinreich hatte daraufhin im "Spiegel" geschrieben, dass der "an einer militärpolitischen Hochschule in Minsk, damals Sowjetunion" ausgebildete Große trotz seines Amtes als Eisschnelllauf-Präsident "die gültigen Ethikregularien des DOSB und das im Dezember 2020 verabschiedete Papier zum 'Schutz von Hinweisgebern' nicht" kennen würde. Von eben jenem Hörmann verkündet Große dann ein Grußwort, dass "der Erfolg in der Causa Pechstein" bedeutend wertiger sei als "viele olympische Medaillen, die mit deutschem Steuergeld erkämpft worden sind".
Neun solcher Olympia-Medaillen hat Claudia Pechstein, die Große in seinen wortgewaltigen Ausführungen immer wieder einfach nur "Pechstein" nennt, gewonnen. Als die 53-Jährige auch mal zu Wort kommt, begrüßt sie zunächst ihre Familie, Freunde und Wegbegleiter und schlägt zunächst den Bogen zurück zu ihren Anfängen. Mit neun Jahren sei sie vom Eiskunst- zum Eisschnelllauf gewechselt und so mancher Zuhörer scheint zu fürchten, dass jetzt eine lange Reise durch "über 50 Jahre mittlerweile auf dem Eis" beginnt. "Mir reicht's aber auch langsam", sagt Pechstein dann, macht ihr Karriereende offiziell und schwenkt also zurück in die Gegenwart. "Ich habe mich schon lange nach dem Moment gesehnt, dass der Fall vorbei ist."
Auch die Bundespolizistin stellt heraus, kritische Stimmen immer im Blick gehabt zu haben über all die Jahre. "Über manche Schlagzeile freue ich mich", sagt sie zwar, aber über noch mehr Schlagzeilen habe sie sich geärgert. Was allein deshalb kurios wirkt, weil Pechstein unmittelbar danach zu betonen versucht, dass sie "die Schlagzeilen nie durchgelesen" habe, die "waren mir auch egal". Diese beiden Sätze gehen nur bedingt zusammen, aber auch das ist egal, weil die Gewinnerin von 42 WM-Medaillen in erster Linie einfach "total glücklich" ist, weil sie sich gesagt habe: "Wenn das [der Streit mit der ISU; Anm.d.Red.] vorbei ist, dann höre ich auf." Dann wendet sie sich zu Große und sagt "jetzt, dank dir mein Held", sei es endlich vorbei.
Ein wiederkehrendes Muster im "Team Pechstein"
Dieser Held rechnet erst noch mit dem System insgesamt ("hat versagt") sowie der deutschen Sportförderung ("wird sich irgendwann mit der Elfenbeinküste um den letzten Platz hauen") und dankt Beratern und Anwälten dafür, "den ganzen Schmutz" bewältigt zu haben. Außerdem unterstreicht er die "unfassbare Befreiung für das Team", zu dem auch der bereits oben erwähnte Manager Ralf Grengel gehört. Der hat ausgerechnet, dass Claudia Pechstein die 5000 Meter, über die sie 1992, 1996 und 2000 Olympiagold gewonnen hat, mehr als 1,2 Millionen Mal hätte laufen können seit Beginn des Rechtsstreits im Februar 2009 - wenn sie ohne Pause durchgehend und immer ihre Bestzeit von 6:46,91 Minuten wiederholt hätte. "Nur, um die Dimensionen mal zu verdeutlichen." Zudem sei Pechstein "sechsmal in Folge zur beliebtesten Wintersportlerin in Deutschland" gewählt worden, "auch wenn manche Journalisten sich nicht erklären können, wieso". Das Freund-Feind-Schema ist im "Team Pechstein" allgegenwärtig.
"Diese Geschichte, dieser Weg", der hinter Große, Pechstein und Grengel liegt, "ist so unfassbar"und "ohne die Unternehmensgruppe Matthias Große wäre das nicht gegangen", wie Große betont, der für die Abschiedsparty ein Eishockeyspiel mit sich selbst als Goalie sowie eine Gala mit sich selbst als Moderator ankündigt: "Das darf Matthias Große in dem Rahmen auch sagen." Auch einen Film und ein Buch werde es geben, die Details dazu sollen folgen, ebenso wie zur Rückzahlung all der Spenden, die Claudia Pechstein in ihrem juristischen Kampf unterstützt haben. "Auf Heller und Pfennig" würden die Beträge erstattet, betont Große, die laut Pechstein "für mich die Grundlage waren", um über all die Jahre auch finanziell durchhalten zu können: "Ich habe damals schon gesagt: Wenn ich gewinne, werde ich das Geld zurückzahlen."
Was Claudia Pechstein allerdings auch und sogar vor Gericht einmal gesagt hatte: "Räumt die ISU öffentlich ein, dass es falsch war, mich zu sperren, bin ich zu einem Vergleich bereit." Ursprünglich hatte sie sogar rund 8,4 Millionen Euro Schadensersatz gefordert, die ISU hatte dies ebenso wie eine später reduzierte Forderung von 4 Millionen plus Zinsen als "ausgeschlossen" zurückgewiesen. Und tatsächlich beinhaltet das Statement der ISU nur die folgenden Punkte: Die Anregung des Gerichts zu einer gütlichen Einigung und das darauffolgende Gespräch inklusive Bluttest, das die vererbte Anomalie bestätigte, die Übereinkunft, den "Rechtsstreit im Geiste einer Versöhnung beizulegen, um sich auf die künftige Entwicklung des Sports konzentrieren können" und die Würdigung der "sportlichen Leistungen von Frau Pechstein" sowie die Vorfreude auf "ihren künftigen Beitrag zur Entwicklung der Athleten und des Eisschnelllaufsports".
Das erhoffte Eingeständnis, dass die Zwei-Jahres-Sperre von 2009 bis 2011 ein Fehler war, kommt darin zumindest nicht explizit vor. Vielleicht war Matthias Große auch deshalb bemüht, zu sagen, dass gerade "kein Vergleich" sei, sondern eine "außergerichtliche Versöhnungserklärung" geschlossen worden ist, den Unterschied könnten die Juristen im Raum erklären. Für Große ist nur wichtig: "15 Jahre meines Lebens habe ich damit verbracht, Pechstein zu Gerechtigkeit zu verhelfen." Diese Zeit habe sie "zu dem gemacht, was wir heute sind" und "deshalb werden wir es krachen lassen". Zumindest mit den Freunden, denn von den Feinden sehe er "heute keinen, der sich entschuldigt." Aber das müssten sie auch gar nicht, "weil sie keinen Anstand haben", so Große. Er und das "Team Pechstein" haben wenigstens gewonnen.
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