Krise am Arbeitsmarkt? War da was? Ob massenhafter Stellenabbau in der Industrie, steigende Kurzarbeitergeldzahlen, sinkende Einstellungsbereitschaft, eine Pleite-Welle an Unternehmen oder die deutlich gestiegene Jugendarbeitslosigkeit. Immer wieder schlagen Ökonomen Alarm, dass sich die Wirtschaftskrise zunehmend auf den Arbeitsmarkt durchschlägt.

Im Arbeitsministerium hingegen hat man die Ruhe weg. „Deutscher Arbeitsmarkt stemmt sich gegen wirtschaftliche Lage“, lautet der Titel der Pressemitteilung anlässlich der jüngsten Monatszahlen. Trotz der „herausfordernden Lage“ bleibe der Arbeitsmarkt stabil, sagt Staatssekretärin Leonie Gebers.

Die Begründung: Die Zahl der Arbeitslosen ist im Vergleich zum Vormonat minimal um 22.000 gesunken und liegt knapp unter der Drei-Millionen-Grenze. Die Quote verharrt bei 6,4 Prozent. Normal wäre zu dieser Zeit allerdings eine Frühjahrsbelebung – die offensichtlich ausgeblieben ist. Und: Im Vergleich zum Vorjahr zählt die Bundesagentur für Arbeit (BA) fast 200.000 Arbeitslose mehr.

Eine Bilanz zum Bürgergeld hingegen fehlt von offizieller Seite nach wie vor. Auf eine Einschätzung im Zuge der Arbeitsmarktzahlen verzichtet das Ministerium, genauso wie bereits in den Monaten zuvor. Die Zahl der Bezieher beträgt aktuell 5,4 Millionen. Davon sind 1,9 Millionen arbeitslos.

Das Ziel, durch Qualifizierung Langzeitarbeitslosigkeit abzubauen, wurde bislang jedenfalls verfehlt. Dass Hubertus Heil (SPD) bis heute keine stichhaltige Auswertung zur „größten Arbeitsmarktreform seit 20 Jahren“ geliefert hat, überrascht angesichts des ausbleibenden Erfolgs kaum.

Der Noch-Arbeitsminister sitzt dieser Tage mit den Unions-Abgeordneten Carsten Linnemann und Gitta Connemann am Verhandlungstisch, um eine Reform des Bürgergeldes auszutüfteln. Wie WELT berichtete, deutet sich dabei zwar eine Wende an. Die Sozialleistung, die in „Neue Grundsicherung“ umbenannt werden soll, dürfte ein Schritt zurück zum Geist des Hartz-IV-Systems sein. Neben dem sogenannten Vermittlungsvorrang sollen bald wieder strengere Sanktionen gelten. Komplett verändert oder gar „abgeschafft“, wie es seitens der Union im Wahlkampf hieß, wird das Bürgergeld aber nicht.

Unkooperative stärker in die Pflicht nehmen

Straffere und effizientere Sanktionen seien richtig, sagt Lutz Mania. Der Chef des Jobcenters Berlin-Mitte hat gemeinsam mit Dagmar Brendel, der Leiterin des Jobcenters Neukölln, zum Pressegespräch geladen. Mania plädiert dafür, von Leistungsempfängern zukünftig wieder mehr Kooperation bei der Arbeitsvermittlung zu verlangen. „Wer erwerbsfähig ist, müsste sich im Grunde fünf Tage pro Woche um Arbeit bemühen“, sagt der Behördenchef. Tatsächlich aber gebe es viele Fälle, in denen die Mitarbeiter im Jobcenter ihre „Kunden“ monatelang nicht gesehen haben und nicht auf schriftliche Kontaktgesuche reagiert wird – es fehle dann aber oft die Handhabe für wirksame Sanktionen.

Wer überhaupt keine Kooperationsbereitschaft zeige, den müsse das Jobcenter wieder stärker in die Pflicht nehmen dürfen, sagt Mania. Was der Behördenleiter fordert, deckt sich zum Teil mit den vorläufigen Beschlüssen aus den Verhandlungsgruppen von Union und SPD.

„Für die Menschen, die arbeiten können, soll der Vermittlungsvorrang gelten. Diese Menschen müssen schnellstmöglich in Arbeit vermittelt werden“, heißt es dort. Und weiter: „Wir werden Vermittlungshürden beseitigen, Mitwirkungspflichten und Sanktionen im Sinne des Prinzips Fördern und Fordern verschärfen.“

Auch das begrüßt Mania. Bislang, kritisiert er, seien die bürokratischen Hürden für Sanktionen viel zu hoch. Zwar enthalte das Bürgergeld einige sinnvolle Förderinstrumente, die beibehalten werden sollten. Doch die Selbstverantwortung komme momentan zu kurz. Im Schnitt ein Drittel der Empfänger erscheine nicht zu vereinbarten Terminen – in manchen Jobcentern sind es mehr als die Hälfte.

„Wenn jemand unbegründet nicht zu Terminen auftaucht, sollte die Leistung eingestellt werden“, sagt Mania. Bislang sieht das Gesetz Kürzungen in Höhe von maximal 30 Prozent des Regelsatzes vor. Reine Drohgebärden seien aber der falsche Weg. Wichtig sei auch, dass die Vertrauensbasis und Individualität in der Beratung nicht verloren gingen, so Mania.

Die offizielle Statistik zählt bundesweit nur rund 16.000 Fälle der sogenannten Totalverweigerung – das würde weniger als einem Prozent aller Empfänger entsprechen. Dass die Zahlen in dieser Statistik so niedrig sind, liegt allerdings an einem oft monatelangen bürokratischen Prozess, während dem die angebotene Stelle die ganze Zeit über unbesetzt sein muss, wie WELT kürzlich berichtete. Und wer sich für Termine nachträglich krankmeldet, dem kann keine „Verweigerung“ mehr vorgeworfen werden. Das härtere Sanktionsregime, das Arbeitsminister Heil vor rund einem Jahr umsetze, erwies sich im Alltag letzten Endes als Papiertiger.

In der Praxis, abseits der amtlichen Statistik, ist es ein nicht unerheblicher Teil der erwerbsfähigen Bezieher, die nicht mit dem Jobcenter kooperieren, so wie es vorgesehen ist, schätzt Mania. „Etwa zehn Prozent der Empfänger machen überhaupt nicht mit.“ Das wären allein in Berlin rund 32.000 Personen. Längst nicht allen wird jedoch das Bürgergeld gekürzt und schon gar nicht vollständig, so wie es Heil einst androhte.

Nun sollen bald tatsächlich strengere Sanktionen gelten, die nicht nur auf dem Papier stehen, sondern einen Praxiseffekt erzielen sollen. „Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen“, heißt es im Papier von Union und SPD. Theoretisch gilt das aber bereits heute, zumindest für zwei Monate. Offen ist nun, ob das strengere Sanktionsregime auch Anwendung findet.

Jobcenter-Chef Mania dämpft die Erwartungen an eine bessere Bilanz bei den Vermittlungen, sollten bald strengere Mitwirkungspflichten gelten. Rund 327.000 Bürgergeldbezieher in Berlin können grundsätzlich arbeiten, bundesweit sind es knapp vier Millionen.

Als erwerbsfähig gilt aber schon, wer pro Tag drei Stunden arbeiten kann. Viele in dieser Gruppe haben gesundheitliche Einschränkungen, Behinderungen oder sind psychisch erkrankt. Passende Jobs für die tatsächlich oft nur eingeschränkt erwerbsfähigen Menschen zu finden, sei daher eine Herausforderung. In der Praxis bedeute das: Die Mitarbeiter im Jobcenter seien für eine „nicht unerhebliche Zahl“ an Menschen zuständig, die eigentlich an anderer Stelle Sozialhilfe beziehen müssten und für die kaum Aussicht auf eine Vollzeitstelle besteht, sagt Mania. Das binde unnötig Ressourcen.

Gerade in Berlin sei die Zahl derjenigen im Bürgergeld, die gesundheitlich eingeschränkt oder sozial isoliert sind, hoch. Bei ihnen seien strengere Sanktionen der falsche Weg. Aufgabe der Jobcenter sei es auch, diese Menschen neu zu befähigen und sie beim Weg zurück in die Arbeit zu unterstützen, sagt Mania.

Deshalb sei es sinnvoll, dass andere Kernbestandteile des Bürgergeldes, wie etwa der Kooperationsplan, erhalten bleiben. Und Mania hat Zweifel, ob der wiedereingeführte Vermittlungsvorrang wirklich bedeute, dass künftig erwerbsfähige Menschen jeden beliebigen offenen Job annehmen müssen – so wie es zum Teil einst unter den Hartz-IV-Regeln umgesetzt wurde.

Hier kommt es aufs Detail an. Denn in den bisherigen Verhandlungen hat sich die SPD eine Hintertür offengelassen, die den Vermittlungsvorrang in vielen Fällen aushebeln würde. „Für diejenigen, die aufgrund von Vermittlungshemmnissen keinen Zugang zum Arbeitsmarkt finden, werden wir vor allem durch Qualifizierung und eine bessere Gesundheitsförderung und Reha-Maßnahmen eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt ermöglichen“, heißt es in den Beschlüssen.

Also doch Qualifizierung statt schnelle Vermittlung in Jobs. Die erwähnten „Vermittlungshemmnisse“ dürfte ein Großteil der erwerbsfähigen Bezieher aufweisen; neben gesundheitlichen Einschränkungen kann das beispielsweise mangelndes Deutsch sein.

Was auch immer die künftige Regierung beschließen werde: Der Grundgedanke – Arbeitsmarktintegration durch Aus- und Fortbildung – werde nicht verschwinden, glaubt Mania. Gerade bei jungen Menschen müsse der Fokus aus Bildung liegen. Gemeinsam mit strengeren Sanktionen, die auch tatsächlich umgesetzt werden, sei das der richtige Weg.

Jan Klauth ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet über Arbeitsmarkt-Themen, Bürgergeld, Migration und Sozialpolitik sowie Karriere-Themen. Den zugehörigen Newsletter können Sie hier abonnieren.

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