In der Arktis kämpfen die USA, Russland, China und Europa um die Vormachtstellung. Geopolitisch beschäftigt das Nordpolargebiet Strategen bereits seit Jahrzehnten. Schmilzt das Eis weiter, könnte die Region auch ein wichtiger Faktor für die Weltwirtschaft werden - ganz ohne Streit.
Jahrzehntelang war die Arktis für ihre unendlichen Weiten und die Eismassen bekannt. Das ändert sich gerade. Nicht nur, weil US-Präsident Donald Trump großes Interesse an Grönland hat und die größte Insel der Welt kaufen will. Auch die anderen Regionen des riesigen Nordpolargebiets sind längst in den Fokus der Weltmächte gerückt. Denn weil das Eis schmilzt, entstehen neue Handelsrouten.
Noch sind große Teile der Arktis die meiste Zeit des Jahres von Eis bedeckt und damit nicht schiffbar. Das wird sich jedoch voraussichtlich in wenigen Jahren ändern. "Derzeit rechnet man damit, dass die Vereisung in den 2030er- und 40er-Jahren weitgehend zurückgegangen sein wird. Dann werden vor allem drei Schifffahrtsrouten interessant werden", sagt Klaus-Peter Saalbach, Experte für Sicherheits- und Geopolitik an der Universität Osnabrück, im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".
In die etwa 14.000 Kilometer lange Nordostpassage, die entlang der russischen Küste führt, legen vor allem Moskau und Peking große Hoffnungen. Russland und China gehen fest davon aus, dass sich die Route zu einem wichtigen Handelsweg entwickeln wird - vor allem für den bilateralen Warenhandel zwischen den beiden Ländern. Russland nutzt den Seeweg vereinzelt bereits für Rohstofflieferungen, dazu gehört der Transport von Rohöl aus der weit entfernten Jamal-Region im Nordwesten von Sibirien nach China.
Insgesamt waren im vergangenen Jahr 97 Frachtschiffe auf der Nordostpassage unterwegs. Das sind zwar mehr Schiffsbewegungen als jemals zuvor auf der Route, gleichwohl im Vergleich zu anderen internationalen Handelswegen aber immer noch verschwindend wenige.
95 Prozent der verschifften Güter - größtenteils Rohöl - wurden von Russland nach China verschifft. Auf dem umgekehrten Reiseweg waren die Schiffe größtenteils leer, hat das Zentrum für Logistik im hohen Norden CHNL (Centre for High North Logistics) analysiert.
Die Nordostpassage könnte langfristig theoretisch eine Alternative zur derzeit gängigen südlichen Schifffahrtsstrecke werden. Sie führt von Asien an Indien vorbei und durch den Suezkanal hindurch nach Europa. Die Gesamtlänge beträgt etwa 21.000 Kilometer und damit gut 7000 Kilometer mehr als die Nordostpassage. Davon würden nicht nur Russland und China, sondern auch die anderen ökonomischen Schwergewichte Asiens - Japan, Südkorea, Indien - sowie ihre Handelspartner profitieren.
Zweifel an Nordwestpassage
Neben der Passage um Nordrussland herum könnte in wenigen Jahren aber auch die Transpolare Seeroute eisfrei sein. Sie führt durch das Zentrum des Arktischen Ozeans und könnte vor allem Island zu einem wichtigen Knotenpunkt der Weltwirtschaft werden lassen. Die abgelegene Vulkan- und Gletscherinsel wäre ein geeigneter Standort für einen großen Umschlaghafen, sollte die Transpolare Route eines Tages schiffbar sein, sagt Experte Saalbach. "Island könnte ökonomisch davon profitieren. Das Land ist am Ausbau von Handelsbeziehungen mit den arktischen Partnern sehr interessiert."
Die dritte mögliche neue Handelsroute ist die Nordwestpassage. Diese Strecke verbindet den Atlantik mit dem Pazifik, verläuft über das Nordpolarmeer und entlang der kanadischen Arktisinseln. Bereits 1845 hatte das Britische Imperium versucht, die strategisch wichtige Abkürzung schiffbar zu machen. Doch die Expedition von "Erebus" und "Terror" endete in einer Katastrophe, 170 Jahre lang schloss die Arktis die beiden Schiffe in ihren riesigen Eismassen ein. Erst 2014 und 2016 wurden ihre Wracks in der lebensfeindlichen Region entdeckt.
Doch im Gegensatz zu Nordostpassage und Transpolarer Route ist die Nordwestpassage womöglich bis heute wirtschaftlich nicht zu betreiben. "Wissenschaftler des amerikanischen Kongresses, das ist das Gegenstück zum Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages, haben voriges Jahr erstmals Zweifel geäußert", verweist Saalbach im Podcast auf eine Analyse aus Washington. Darin heißt es unter anderem: "Die Nordwestpassage ist potenziell für den Handel zwischen Nordostasien (nördlich von Shanghai) und dem Nordosten Nordamerikas geeignet, aber sie ist kommerziell weniger rentabel als die Nordostpassage."
Offen ist auch die Frage, welchen Einfluss Streitigkeiten zwischen Kanada und den USA auf die Schiffbarkeit der Nordwestpassage haben. Umstritten ist, wer die territoriale Hoheit über die Seeroute hat. Dieser Streit zwischen den beiden nordamerikanischen Schwergewichten schwelt viel länger als der aktuelle Handelskonflikt, den Donald Trump vom Stapel gerissen hat. Kanada argumentiert, dass die Nordwestpassage zum kanadisch-arktischen Archipel gehört und damit gemäß Seerechtsübereinkommen als Binnengewässer zählt. Die USA sehen die Route als internationale Schifffahrtsstrecke an, die von Kanada nicht geschlossen werden darf.
"Faktisch geklärt, dass Gebiete zu Russland gehören"
Ansonsten sind die großen Grenzstreitigkeiten in der Arktis aber inzwischen fast alle beigelegt. Der Hauptkonflikt drehte sich jahrelang um den sogenannten Lomonossow-Rücken. So heißt das Gebiet rund um den Nordpol, das fast viermal so groß ist wie Deutschland. "Das ist ein Festlandsockel, der unter dem Meer verläuft", erklärt Saalbach bei "Wieder was gelernt".
Die Kommission zur Begrenzung des Festlandsockels, ein Organ der Vereinten Nationen, hatte 2023 entschieden, dass 1,7 Millionen der insgesamt 2 Millionen strittigen Quadratkilometer russisch sind. "Der Beschluss ist völkerrechtlich noch nicht bindend, aber faktisch ist damit geklärt, dass diese Gebiete zu Russland gehören", analysiert Saalbach. Einzig bei 300.000 Quadratkilometern des Gakkelrückens im Arktischen Ozean sei die Frage der Zugehörigkeit noch offen. "Aber auch da sind die Ansprüche noch nicht endgültig abgelehnt worden."
Während Russland in der zivilisierten Welt derzeit gewaltsam Grenzen zu verschieben versucht, hat der Kreml in der lebensfeindlichen Arktis gewissermaßen auf offiziellem Behördenweg große Gebietsgewinne gemacht. "Es klingt vielleicht überraschend, aber in der Arktis sind inzwischen praktisch alle Grenzkonflikte geklärt", fasst Saalbach im Interview zusammen. Amerikaner und Russen hätten inzwischen festgestellt, dass sie keine Gebietsansprüche auf ein und dasselbe Gebiet in der Arktis erheben. Es gäbe demnach zwischen Washington und Moskau keine Konkurrenz in der Nordpolarregion mehr.
"Whisky-Krieg" zwischen Kanada und Dänemark
Auch die anderen Arktisanrainer haben ihre Streitigkeiten größtenteils beigelegt. Norwegen und Russland schlossen 2010 ein Grenzabkommen über die Hoheitsverhältnisse in der Barentssee. Kanada und Dänemark für Grönland einigten sich bereits 1973 über die Grenzziehung, 2022 wurde mit der Grenzfestlegung auf der Hans-Insel in der Nares-Straße, hoch im Norden zwischen Kanada und Grönland, auch der letzte strittige Grenzkonflikt zwischen Ottawa und Kopenhagen beigelegt.
Das unbewohnte Mini-Eiland, etwa drei Kilometer breit und einen Kilometer lang, wurde zwischen Kanada und dem dänischen Königreich aufgeteilt. Vorausgegangen war einer der kuriosesten Konflikte der Welt, der sogenannte "Whisky-Krieg".
1984 hatte Dänemarks Grönlandminister die dänische Flagge auf der Insel gehisst. Daraufhin wurde der Felsbrocken im Meer abwechselnd von kanadischen und dänischen Delegationen aufgesucht und durch Hissen der entsprechenden Landesflaggen abwechselnd beansprucht. Um die Stimmung aufzuheitern, hinterließen Kanadier und Dänen neben der gehissten Flagge bei jedem Besuch einen landestypischen Schnaps auf der Insel, der dann von der nächsten Delegation mitgenommen wurde.
Was wie Folklore klingt, hat dennoch einen ernsten Hintergrund. Denn der Grönlandminister der dänischen Regierung äußerte schon vor 20 Jahren die Vermutung, dass die kleine Hans-Insel eines Tages wichtig für die Schifffahrt werden könnte: Wenn das Eis weiter schmilzt und auch die Nares-Straße befahrbar wird, könnte eines Tages eine weitere Handelsroute durch die Arktis entstehen. Kanada wiederum wollte im Streit um Hans vor allem deshalb nicht nachgeben, um keinen Präzedenzfall im Konflikt um die Hoheitsrechte über die Nordwestpassage zu schaffen.
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