Hertha BSC hatte der Weltauswahl des FC Barcelona gerade ein bemerkenswertes 1:1 in der Champions League abgerungen, da trafen sich die beiden Torhüter im Mittelkreis. Ruud Hesp (59), Keeper von Barca, streckte Gabor Kiraly (48) sein Trikot entgegen. Der Berliner zögerte, hatte er doch bis dahin nie Shirts nach Spielen getauscht. Doch sein Gegenüber überzeugte ihn mit einem Satz: „So haben wir einen Beweis, dass wir wirklich gegeneinander gespielt haben.“

Gesehen hatten sich die beiden Schlussmänner in den 90 Minuten zuvor nämlich nicht. Dichter Nebel verhinderte das, sorgte dafür, dass kaum einer Kiralys Superleistungen sah. Der Nebel sorgte aber auch für einen Kult-Moment in der Königsklasse.

Um 10 Uhr am 23. November 1999 trafen sich Schiedsrichter, Polizei, Uefa-Vertreter, Sicherheits- und Veranstaltungsleute im Berliner Olympiastadion zur obligatorischen Vorbesprechung. Draußen war es zwei Grad kalt, der Himmel war klar. Drinnen wurde über die Trikotfarben der Mannschaften und Kiralys graue Jogginghose gesprochen. „Ein Gefahrenszenario durch schlechtes Wetter hatte sich in keiner Weise angedeutet“, erinnert sich Matthias Huber, damals Orga-Chef der Hertha.

Draußen klare Sicht, drinnen eine dicke Nebelwand

Auch kurz vor dem Spiel herrschte nichts als pure Vorfreude auf ein besonderes Spiel. „Wir waren zweieinhalb Jahre vorher in die Bundesliga aufgestiegen. Jetzt spielten wir Champions League und hatten in der Saison schon gegen die AC Mailand, Chelsea London und Galatasaray Istanbul bestanden. Alles ging sehr schnell“, erinnert sich Dieter Hoeneß (72). Der damalige Sport-Boss der Hertha weiß noch, dass die Vorfreude auf das Star-Ensemble von Barcelona groß war. Kluivert, Figo, Guardiola, Luis Enrique, die de-Boer-Brüder, Cocu, Zenden, Reiziger und van Gaal als Trainer. „Wir haben dem Spiel entgegengefiebert, die Erwartung war riesengroß“, sagt Hoeneß.

Und Trainer Jürgen Röber (71) erinnert sich: „Ich musste vor dem Spiel nicht viel sagen. Der große FC Barcelona im Olympiastadion – die Jungs waren alle so heiß, sie wollten alle nur noch auf den Rasen. Ich habe ihnen nur noch mal die Zuteilung erläutert und dann ging es los.“

Auch die über 60.000 Zuschauer, die sich für das Spiel eine Karte gekauft hatten, waren gespannt. Sebastian Stargard (37) war zwölf und mit seinem Vater auf dem Weg ins Stadion. „Mein Papa checkte immer den Wetterbericht. Alles gut. Bei der Anfahrt war klare Sicht“, erinnert er sich. Auch Thomas Feistel (53) wollte seine Hertha unbedingt gegen Barça sehen. „Es war kalt und ungemütlich. Damals durften wir noch Thermoskannen mit ins Stadion nehmen. Und die kleine Whiskey-Flasche war im Schritt verstaut“, berichtet er – und von dem Moment, der alles änderte: „Als wir ins Stadion kamen, hing eine Nebelglocke über dem Rasen. Wir haben von unseren Plätzen aus so gut wie nichts gesehen.“

Es war die Phase, als es „hektisch“ wurde, wie sich Orga-Chef Huber erinnert. Im Sommer hatte er noch zehntausende Sitzschalen auftreiben müssen, sonst hätte die Uefa Hertha vor nur 2200 Zuschauern in Berlins größtem Stadion spielen lassen. Und nun drohte ein Spielausfall, weil die Sicht immer schlechter wurde.

„Ich konnte von meinem Strafraum nicht das andere Tor sehen“, erinnert sich der Hertha-Keeper

„Beim Warmmachen war gar kein Nebel. Erst als wir zum Anpfiff kamen, war die Sicht so schlecht, dass ich von meinem Strafraum nicht das andere Tor sehen konnte“, sagt Keeper Kiraly. Was er damals nicht wusste: Am Spielfeldrand wurde eifrig diskutiert, was zu tun sei. Große Turbinen könnten die Luft aus dem Stadion blasen, meinten die einen. Andere dachten an einen Hubschrauber, der mit seinen Rotorblättern für freie Sicht sorgen könnte. Und es fiel sogar die Idee von offenem Feuer, um den Nebel zu bekämpfen. Alles scheiterte schon im Ansatz an Verfügbarkeit, Sicherheitsaspekten und Gesetzen. „Unten am Platz war es nicht so dramatisch wie es von oben aussah. Spielzüge über 30, 40 Meter konnte man schon noch gut erkennen“, erinnert sich Hoeneß.

Trainer Röber wollte spielen, um im Rhythmus zu bleiben. Den Hertha-Verantwortlichen war der Anpfiff auch recht, weil eine Verlegung immense Kosten für Sicherheits- und Service-Personal ohne neue Einnahmen bedeutet hätte, und die Uefa hätte vor einer kaum lösbaren Suche nach einem neuen Termin gestanden. Kurze Zeit gab es die Idee, am nächsten Tag zu spielen. Doch da wollte Barcelona nicht mitmachen. Und ein volles Stadion ohne Spiel zu räumen, empfahlen die Sicherheitskräfte nicht. Vielleicht wollte Schiedsrichter Nikolaj Levnikov (68) auch deshalb problemlos beide Tore von der Mittelline gesehen haben. Dieses Kriterium gab der Russe zumindest an, um das Spiel freizugeben. Tatsächlich räumten alle Beteiligten später ein, dass allenfalls die Strafräume vom Anstoßpunkt erkennbar gewesen seien, nicht aber Latten und Pfosten.

„Die Termine waren sehr eng. Ich denke, der Schiedsrichter war unter Druck, das Ding durchzuziehen“, sagt Hoeneß heute. Michael Preetz (57), damals Stürmer bei Hertha: „Unsere Einschätzung war, dass die Uefa vermutlich aus Termingründen unbedingt spielen lassen wollte. Auch für Hertha war es das größte Spiel mit einer überragenden Bedeutung. Erstmals in der Champions League, erstmals gegen Barcelona mit den Super-Stars, ein volles Stadion. Doch letztendlich hätte da auf dem Rasen jeder Amateurverein stehen können – es war ja leider fast nichts zu sehen.“

Vor allem für die Zuschauer vor Ort. „Wir dachten, der Nebel setzt sich noch. Aber es war aussichtslos“, sagt Fan Feistel: „Wir haben damit gerechnet, dass es nicht gestartet wird und haben den Anpfiff gar nicht mitbekommen.“ Auch die Tore nicht. Weder das 0:1 von Luis Enrique (13.) noch den Ausgleich von Kai Michalke (33.). „Die Anzeigetafel haben wir auch nicht sehen können. Nur die Leute, die ganz unten saßen, haben etwas erahnt. Das wurde dann wie bei der stillen Post Reihe für Reihe nach oben getragen.“ Sicher sein konnte sich Feistel aber erst, als er eine damals noch recht teure SMS bekam. „1:0 für Barcelona.“ Und später: „1:1 Hertha.“ Dementsprechend wurde dann eben etwas zeitversetzt geflucht und gejubelt.

Die einzige Orientierung am Spielverlauf bot die Akustik, erinnert sich Zuschauer Stargard. „Beim Hertha-Tor hat die Ostkurve gejubelt. Da musste etwas Gutes passiert sein. Das war Jubeln auf Verdacht“, sagt er. „Erst als der Stadionsprecher die Tore durchgesagt hatte, konnten wir uns sicher sein.“ Wie unwirklich das Geschehen tatsächlich war, offenbarte sich dem damals kleinen Fan in der Pause. „Wir sind nach der ersten Halbzeit aus dem Stadion gegangen und haben eine Wurst gegessen. Dort war es klar. Erst als wir zurück auf den Plätzen waren, verhüllte der Nebel wieder die Sicht.“

Vier Monitore für den Kommentator. Doch er sah nichts

Bis heute ist nicht klar, warum der Nebel derart im Olympiastadion stand. Die wahrscheinlichste Theorie: Die kalte Luft, die in die tiefergelegene Arena zog, vermischte sich mit der Atemluft und der Körperwärme der vielen Zuschauer. Daraus entstand eine Nebelwand, die erst abziehen konnte, als die Zuschauer gingen. Kiraly erinnert sich: „Ich wohnte nur wenige Hundert Meter entfernt und stand nach dem Spiel auf meinem Balkon. Ich schaute Richtung Stadion und sah nichts vom Nebel. Währenddessen lief im Fernsehen die Wiederholung unseres Spiels, und man hat nichts erkannt.“

Kurioserweise blieben die allermeisten Zuschauer aber vor Ort – obwohl sie kaum Sicht hatten. „Es war einer der größten Momente der Hertha-Geschichte. Mir haben die Zuschauer leidgetan, dass sie das Spiel nur schemenhaft verfolgen konnten“, sagt Hoeneß. Daher kamen er und seine Kollegen bei Hertha auf eine Idee. Sie riefen einige Tage nach dem Nebelspiel eine Aktion aus: Zuschauer, die das Ticket gegen Barcelona vorlegen können, haben freien Eintritt für eines der nächsten Heimspiele. So kamen viele gratis bei der Partie gegen 1860 München ins Stadion. Es war ein Abendspiel im Dezember, das enttäuschend endete – mit 1:1. Diesmal aber mit klarer Sicht.

Viel Frust hatten die Nebel-Zuschauer aber gar nicht geschoben. „Wir wollten dabei sein. Ich hatte mir extra freigenommen. Da rennt man sowieso nicht nach Hause“, sagt Feistel. Er erinnert sich: „Wir haben es mit Galgenhumor genommen, einfach ein bisschen gefachsimpelt. Auf der Heimfahrt gab es nur ein Thema unter den Fans: Was hast du gesehen?“

Die Antwort vor Ort war meistens: nichts. Und auch zu Hause war es nicht viel besser. Aufkommender Nebel sorgte auch beim Fernsehen für nervöse Blicke. „Ich habe auf dem Ü-Wagen Blut und Wasser geschwitzt“, sagt Frank-Thomas Sippel, der damals für den übertragenden Sender tm3 die Leitung hatte und hoffte, dass das Spiel verlegt wird. „Unsere Sorge war groß: Was machen wir mit einem weißen Bildschirm? Aber es stand nie zur Diskussion, ob wir aus der Übertragung aussteigen.“

Stattdessen passte sich das Team an. Kommentator Michael Pfad bekam vier Monitore an den Platz gestellt, die das Spiel aus unterschiedlichen Kameraperspektiven zeigte. „Wir entschieden uns für einen Hörfunk-Kommentar light“, sagt Sippel. Pfad sprach einfach etwas mehr – manchmal sowas wie: „Hertha ist im Ballbesitz. Glaube ich. Aber warten wir es mal ab.“ Am Spielfeldrand mussten die Field-Reporter möglichst auf Ballhöhe hin und her laufen. Das, was sie sahen, ging als Info an den Kommentator. Und die Regie schnitt immer häufiger auf die Kameras, die nah am Platz standen und noch die besten Bilder lieferten.

Auf die waren auch Moderator René Hiepen und Experte Matthias Sammer angewiesen. „Wir hatten ein Glasstudio auf dem Marathontor. Je später es wurde, desto weniger haben wir gesehen“, erinnert sich Hiepen. „Hätten wir die Monitore nicht gehabt, hätten wir gehen können.“ Was ihn am nächsten Tag überraschte: Die Einschaltquoten waren so hoch wie immer, sogar etwas besser. Hiepen: „Das wollte eben jeder sehen.“

Doch den wenigsten gelang es. „In der ersten Hälfte ging es auf dem Platz noch halbwegs, da konnte man zumindest vom Mittelkreis beide Sechzehner sehen. Doch in der zweiten Hälfte konnte man fast nicht mal mehr die eigene Hand vor Augen erkennen, das war Wahnsinn“, sagt Stürmer Preetz. „Ich bin irgendwohin gerannt oder sogar gegengerannt. Das war wirklich verrückt. Es hat sich wie Stochern im Dunkeln angefühlt.“ Der Schiedsrichter pfiff dennoch nicht ab. Der Wechsel von weißen auf rote Bälle sollte helfen. „Weiße Bälle im weißen Nebel – keine gute Idee. Aber rot brachte auch nichts, weil kein Schnee lag. Ein gelber Ball hätte geholfen“, erinnert sich Kiraly.

„So wenige Kommandos habe ich nie wieder gegeben“, sagt der damalige Trainer

Der Torwart machte ein unglaublich gutes Spiel, hielt Hertha das Unentschieden fest. „Das hat aber keiner gesehen“, sagt der Ungar schmunzelnd und überrascht: „Das Spiel war eine tolle Erfahrung. Durch den Nebel konnte man sich bei jedem Ball schwer verschätzen: Man konnte die Distanzen nicht erkennen, wusste daher nicht, ob es eine lockere Flanke oder ein Torschuss war.“ Kiraly weiß noch: „Ich war immer hellwach. Denn ich konnte mich auf nichts vorbereiten. Sie rannten aus dem Nebel an der Mittellinie auf mich zu. Plötzlich war die ganze Mannschaft vor mir.“

Es wurde immer abstruser. Hoeneß versuchte, von der Tribüne etwas zu erahnen. „Wenn eine Schwade wegzog, konnte man kurz Trikots und Bewegungen sehen. Aber wenn etwas auf der anderen Seite des Platzes passierte, hatten wir keine Chance, das Spiel zu verfolgen“, sagt der damalige Manager. Trainer Röber versuchte sein Bestes. „In der zweiten Halbzeit konnte man wirklich nur noch gut 30 Meter weit sehen. Wenn einer bei mir in der Nähe war, konnte ich Anweisungen geben. Aber auch nur dann. So wenige Kommandos habe ich wohl nie wieder gegeben“, erinnert er sich.

„Ich fragte mich ernsthaft: Was machen wir hier eigentlich? Die zweite Halbzeit hat gar keinen Sinn ergeben“, sagt Preetz. „Es war nicht mehr möglich, Fußball zu spielen. Es war auch klar, dass man von den Rängen irgendwann definitiv nichts mehr sehen konnte. Es war ein irreguläres Spiel, das nie hätte stattfinden dürfen.“ Aber der spätere Manager erinnert sich auch: „Mir war hinterher sofort klar, dass wir alle Teil eines historischen Fußballspiels gewesen sein müssen. In der Mixed Zone habe ich nach Abpfiff allen Journalisten erzählt, dass ich mit Abstand der beste Mann auf dem Platz gewesen bin – es konnte ja keiner überprüfen…“

Hertha verdiente sich mit Spielern wie Marko Rehmer, Dick van Burik, Andreas Thom, Daiusz Wosz und Ali Daei den Punkt. „Das Ergebnis zeigt unsere damalige Stärke. Wir haben als Mannschaft super reagiert“, sagt Kiraly, der durch diese Partie begonnen hat, Trikots mit anderen Spielern zu tauschen. Zuvor wollte er seine Shirts nie aus der Hand geben. Heute hat er mehr als 100 in seinem Sport-Zentrum in Ungarn. Von Neuer, Kroos – und Hesp aus dem Nebelspiel, das kaum einer sah.

Der Text wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, SPORT BILD, BILD) erstellt und zuerst in SPORT BILD veröffentlicht.

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