Im Nations-League-Hinspiel erarbeitet sich die DFB-Elf laut Bundestrainer Nagelsmann eine "gefährliche" Ausgangssituation. Bei dem erst späten Erfolg produzieren vor allem zwei Akteure besondere Geschichten.
Es gibt wohl kaum Wörter im Fußball, die so überstrapaziert sind, wie der Begriff "ausgerechnet". Natürlich war es Leon Goretzka, der das ohnehin nicht ausverkaufte San Siro mit seinem Treffer zum 2:1 kurz verstummen ließ. Man rieb sich die Augen: Joshua Kimmich schlägt in der 77. Minute eine Ecke, die immer länger und länger wird. Für das menschliche Auge kaum wahrnehmbar, touchiert ein heranrauschender DFB-Star den Ball, kurz darauf liegt dieser dann auch schon im Tor. Getroffen hat: ausgerechnet Goretzka.
Auch dank dieses Treffers gewinnt die deutsche Fußball-Nationalmannschaft erstmals seit 39 Jahren ein Auswärtsspiel gegen Italien - mit 2:1 (0:1). Dabei produziert die DFB-Elf gleich mehrere Geschichten fürs Herz. Aus dem San Siro, dem Opernhaus des Fußballs, inszeniert sie in mehreren Akten eine Botschaft: Bloß niemals aufgeben. Es ist nicht nur die "neue Stärke", wie Bundestrainer Julian Nagelsmann auf der Pressekonferenz erklärt. Sein DFB-Ensemble dreht einen frühen Rückstand und es lässt gleich zwei Akteure strahlen.
Da wäre, klar, ausgerechnet Goretzka. Dessen DFB-Märchen schreibt sich von selbst. Nagelsmann strich ihn vor anderthalb Jahren aus dem DFB-Kader, nahm ihn auch nicht zur Heim-Europameisterschaft mit. "Er hatte keine superleichte Zeit bei uns", sagte Nagelsmann. Zugleich verlor der 30-Jährige seinen Stammplatz beim FC Bayern, fand sich manchmal nicht mal mehr auf der Bank wieder. Und jetzt: DFB-Comeback mit Siegtreffer. Besser geht es kaum. "Es ist eine schöne Geschichte", sagte Goretzka selbst der ARD.
Nagelsmann muss sich korrigieren
Er hat damit den zweiten Aspekt der kleinen Fußball-Kitsch-Oper vollendet: das Comeback. Zwar hatte der Bundestrainer nach eigener Aussage nicht das Gefühl, sein Team könnte wegbrechen. Doch nach dem frühen Rückstand in der 9. Minute wirkte die DFB-Elf alles andere als sattelfest. Italien hatte mit der ersten Chance des Spiels getroffen: Die linke deutsche Seite um David Raum sieht nicht sonderlich gut aus, als plötzlich Italiens Matteo Politano am DFB-Sechzehner ganz viel Platz hat. Seinen Querpass versucht Jonathan Tah zu klären, doch das geht schief. Am Ende vollendet Sandro Tonali von der Strafraumkante aus den deutschen Fehlstart.
Tatsächlich war die erste Hälfte eine der schlechteren in der jüngeren Nagelsmann-Ära. Auch Kapitän Kimmich sah "viele Fehler". "Vielleicht waren wir auch ein bisschen nervös und fahrig", sagte er. Und das ausgerechnet im Klassiker. Ausgerechnet im legendären San Siro. Das sind große Spiele, Emotionen, Geschichten. Die Rivalität wurde schon vor dem Spiel ausgewalzt. Die deutsche Hymne und Aufstellung quittierte der italienische Teil der 60.334 Menschen mit lauten Pfeifen, später dann aber wohlwollend mit Applaus. Derweil gingen wiederum die deutschen Pfiffe während der italienischen Hymne im inbrünstigen Gesang unter.
Doch so richtig wollte die Klassiker-Stimmung danach nicht aufkommen. Mitverantwortlich war vielleicht auch, dass die Italienerinnen und Italiener ihr Team mit einer gewissen Skepsis verfolgen. Schließlich war die Squadra Azzurra schon im EM-Achtelfinale gegen die Schweiz ausgeschieden. Hinzu kommt, dass die DFB-Elf arg zerrupft in Mailand angereist war. Florian Wirtz, Kai Havertz und Niclas Füllkrug: Gleich mehrere EM-Helden fehlten verletzt. Zur Folge hatte das, dass Nagelsmann überraschend die beiden Mainzer Nadim Amiri und Jonathan Burkardt in der Startelf aufbot. Nur funktionierte das nicht.
Nicht nur Goretzka
Das sah auch der Bundestrainer. Nagelsmann eilte nach dem Pausenpfiff in die Kabine, denn es gab einiges zu tun. Schon während der ersten 45 Minuten zeigte er sich unzufrieden. Immer wieder diskutierte er mit Co-Trainer Sandro Wagner. Wenn er das nicht tat, tigerte Nagelsmann durch seine Coachingzone, gestikulierte wild, beschwerte sich beim Schiedsrichter-Gespann und gab seinen Schützlingen neue Anweisungen. Diese waren auch nötig: Die Italiener lähmten das deutsche Spiel. Die Dreierreihe um Tonali, Nicolò Barella, Nicolò Rovella nahm das offensive DFB-Trio um Jamal Musiala aus dem Spiel, ganz klassisch mit Manndeckung. Man merkte das Fehlen von İlkay Gündoğan, Havertz und Wirtz. Leroy Sané blieb stets bemüht, Amiri hatte praktisch kaum den Ball. Die schnellen Konter der Squadra überforderten dazu die DFB-Abwehr.
Die schnelle Flucht in die Katakomben brauchte Nagelsmann, um sich in der Halbzeitpause selbst zu korrigieren. Folgenden Plan hatten sie im Trainerteam ausgeheckt: Nico Schlotterbeck (ausgerechnet ein Vertreter des kriselnden BVB) ersetzte den glücklosen Raum, Tim Kleindienst übernahm für Burkardt im Sturmzentrum. Der Gladbacher bekam vom Bundestrainer keine "Zauberworte" auf den Weg, wie er später erklärte, sondern einen klaren Auftrag: Tore schießen. Nagelsmanns Umstellungen überrumpelten die Italiener, die Manndeckung funktionierte nicht mehr. Das entdeckte auch Kimmich: Kleindienst durfte nach seiner Flanke überraschend frei in der 49. Minute zum 1:1 köpfeln. Später vollendete ebenjener Goretzka zum 2:1.
Damit surrt auch der DFB-Motor fleißig weiter. Seit dem Neustart im vergangenen März in Lyon erlitt die Nagelsmann-Elf nur eine einzige Niederlage - das 1:2 n. V. im EM-Viertelfinale gegen Spanien. Es ist fast beängstigend, in welchem Tempo der Bundestrainer seiner Auswahl ihr neues Selbstverständnis einimpft: nämlich immer gewinnen zu wollen. Der knappe Erfolg über Italien bezeugt das, auch wenn Nagelsmann das 2:1 für ein "gefährliches" Ergebnis hält, um damit ins Rückspiel am Sonntag in Dortmund zu gehen (20.45 Uhr/RTL und im ntv.de-Liveticker).
Aber vorher gibt es noch eine letzte Niemals-Aufgeben-Geschichte des Abends. Wer vor einem Jahr darauf gewettet hätte, dass deutsche Fans einmal laut hörbar ausgerechnet den Namen von Oliver Baumann im San Siro skandieren, die oder der sollte vielleicht öfter Lottospielen. Denn der Torwart, der normalerweise in den Diensten der TSG Hoffenheim steht und damit naturgemäß etwas unter dem Radar fliegt, war zur Ersatz-Nummer-Eins für die Viertelfinalspiele auserkoren worden, auch nur, weil die etatmäßige Nummer eins, Marc-André ter Stegen, noch immer verletzt ist.
Es ist vor allem deshalb eine Never-Give-Up-Story, weil Baumann seit fünf Jahren auf diesen Moment lauerte. Erstmals stand er am 3. September 2020 im DFB-Kader, erst im vergangenen Jahr debütierte er und nun rettete er seine Kollegen mit zwei Glanzparaden vor einem Horrorauftakt. Es ist die Erfolgsgeschichte des zuverlässigen Backups. Überrascht darüber sei er nicht, sagte Nagelsmann auf der Pressekonferenz. Er wisse, dass Baumann ein sehr guter Torwart ist. Dank seiner Reflexe weiß das nun das auch ganz Italien.
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