Bis 12.30 Uhr mussten die deutschen Nationalspieler am Montag im Hotel „L'arrivee Hotel & Spa“ in Dortmund erscheinen. 23 Profis hat Bundestrainer Julian Nagelsmann für die anstehenden Nations-League-Spiele gegen Italien am Donnerstag (20.45 Uhr/ARD) und am Sonntag (20.45 Uhr/RTL) nominiert. Tim Kleindienst von Borussia Mönchengladbach ist auch wieder mit dabei.

Der 29 Jahre alte Stürmer ist ein Spätstarter. Erst im Oktober des vergangenen Jahres wurde er erstmals in den DFB-Kader berufen. Der Weg zum Glück war kein einfacher. Über Umwege spielte sich Kleindienst ins Rampenlicht.

WELT: Herr Kleindienst, wie schnell sind Sie eigentlich über 100 Meter?

Tim Kleindienst: (überlegt kurz) Als ich das das letzte Mal bewusst gecheckt habe, habe ich mein Abitur gemacht. Ich weiß es nicht.

WELT: Wir fragen Sie das auch nur, weil Mitbewohner von Ihnen dafür rund 20 Minuten bräuchten. Sie haben vier griechische Landschildkröten.

Kleindienst: Ja, tatsächlich. Und wenn das Wetter so mitmacht, sehen wir sie auch bald wieder draußen. Denn so langsam kommt die Zeit, wo wir sie wieder aus dem Kühlschrank holen.

WELT: Weil Sie dort überwintern?

Kleindienst: Normalerweise würden sie sich ja verbuddeln, um den Winter zu überstehen. Doch das kann ich nicht so gut kontrollieren. Im Kühlschrank, der in der Garage steht und in dem sie ihre Boxen haben, kann ich ihre Zeit regulieren, die sie dort verbringen. Der Kühlschrank wird über ein Thermostat gesteuert, womit ich den Schildkröten eine künstliche Umgebung erschaffen kann, in der sie problemlos überwintern können.

WELT: Was fasziniert Sie an diesen Tieren – inwiefern widmen Sie sich Ihnen im Alltag, die Tiere werden sehr alt?

Kleindienst: Die Faszination für diese Tiere rührt von einer Urlaubsreise, in der ich sie mal live in der Natur gesehen habe. Das sind so entspannte Tiere. Ich habe sie mir sehr gern angeschaut und beobachtet. Das ist nichts Besonderes, aber ich finde, diese Tiere strahlen eine schöne Ruhe aus. Die nehmen uns auch sprichwörtlich mal den Wind aus den Segeln. Wenn ich sie anschaue, kann ich ganz über verschiedene Dinge nachdenken. Aber das funktioniert mit anderen Tieren ebenfalls. Wir haben noch einen Hund, der mich auch gut ablenken kann.

WELT: Die Ruhe, die diese Tiere ausstrahlen, brauchen Sie als Stürmer auch vor dem Tor. Ist das eine Gabe, die Sie seit jeher haben?

Kleindienst: Nicht unbedingt. Das habe ich mir mit der Zeit angeeignet, weil ich aus gewissen Situationen gelernt und meine Erfahrungen gesammelt habe. Ich denke schon, dass ich vor einigen Jahren hier und da im Vergleich zu heute etwas hektischer reagiert habe, vielleicht auch überraschter. Da hat sich mit der Zeit etwas entwickelt.

WELT: Das heißt, man kann die Ruhe vor dem Tor trainieren?

Kleindienst: Absolut. Es geht ja nicht nur um die Ruhe vor dem Tor, sondern die Ruhe ganz allgemein. Wobei es natürlich auch noch etwas Übersicht bedarf, den Ball dann am Ende ins Tor zu schießen.

WELT: Ihr Weg, den Sie eingeschlagen haben oder teilweise auch gehen mussten, war nicht leicht. Es gab mit Leihstationen einige Umwege. Wie sehr hat Sie das nachhaltig beeinflusst?

Kleindienst: Sehr würde ich sagen. Gleichzeitig finde ich aber auch, dass es wichtige Erfahrungen waren. Ich denke, es gibt ganz wenige Karrieren, die perfekt verlaufen. Für meine Entwicklung war es sicherlich von Nutzen, auch mal negative Erfahrungen gemacht zu haben. Man zieht daraus auch etwas und ist gewappnet, wenn es neue Herausforderungen gibt. Bevor ich beispielsweise nach Mönchengladbach gegangen bin, habe ich viel mehr überlegt und viel mehr Fragen gestellt als das etwa vor meinem Wechsel nach Gent (2020, die Red.) der Fall war. Damals habe ich nicht so viel hinterfragt und meine Familie nicht so viel in meine Gedanken einbezogen. Das war jetzt anders, da ging es nicht mehr nur um mich, sondern auch um mein enges Umfeld. Das ist ein Lernprozess.

WELT: Würden Sie sagen, dass Sie das Durchbeißen, das Kämpfen und es denen zu beweisen, die vielleicht nicht so an Sie geglaubt haben, geprägt hat?

Kleindienst: Definitiv. Für einen persönlich ist das auch ein Beweis dafür, dass die, die einem früher mal nicht so viel vertraut und zugetraut haben, offenbar falschgelegen haben – und dass es sehr wohl möglich ist, einen guten Weg einschlagen zu können.

WELT: Jüterbog, Cottbus, Freiburg, Heidenheim, Gent, Heidenheim und nun Mönchengladbach. Es waren lange eher die kleinen Klubs, die Sie aber letztlich bis in die Nationalelf geführt haben. Was sagt das aus?

Kleindienst: Dass ich sehr stolz sein kann auf das, was ich erreicht habe. Bei den sogenannten kleinen Vereinen ist es meist schwieriger, ins Rampenlicht zu kommen als bei einem größeren Klub, der viel mehr Reichweite hat und viel mehr im Fokus steht. Es ist ein Unterschied, ob ich zwölf Tore in Heidenheim schieße oder zwölf in Mönchengladbach.

WELT: Wie ist das in Bezug auf Ihren Lebensstil: Hat sich an Ihrer Bodenständigkeit etwas verändert, da Sie erstmals bei einem etwas größeren Klub sind?

Kleindienst: Ich denke, es sollte eine Grundvoraussetzung sein, sich nicht zu verändern, nur weil Dinge im Umfeld sich ändern, das heißt, weil man gefühlt bei einem größeren Klub ist, der viel mehr Interesse auf sich zieht. Ich bin weiterhin so, wie ich das zuvor schon war.

WELT: Wollten Sie eigentlich immer schon Stürmer werden?

Kleindienst: Ich sage es mal so, als ich noch ganz jung war, habe ich hinten gespielt. Da ich aber sehr oft mit dem Ball nach vorn gelaufen bin, waren die Trainer meist genervt und nicht so begeistert von meiner Spielweise. Sie haben mich dann immer weiter nach vorn geschoben. Möglicherweise war der Drang, vorn im Sturm zu agieren, schon immer in mir drin.

WELT: Auch das fragen wir nicht ohne Hintergrund, denn echte Stürmer genossen ob der Entwicklung des Fußballs lange Zeit keine große Aufmerksamkeit mehr. Die „falsche Neun“ war angesagt.

Kleindienst: Das war ein kurzer Hype. Viele Trainer wollten es vorn plötzlich spielerisch lösen, mit einer gewissen Zockerei. Jetzt hat sich das wieder geändert. Man sieht es gerade bei vielen Top-Teams, wie viel Wert auf echte Stürmer gelegt wird, auf Brecher. Die Bayern etwa haben Kane, Leverkusen Schick und Boniface, Manchester City Haaland. Der Trend geht klar zur echten Neun.

WELT: Sie haben den Brecher erwähnt. Was auffällt, dass mit Ihnen, der 1,93 Meter misst und dem Stuttgarter Nick Woltemade, der sogar noch fünf Zentimeter länger ist, zwei lange Angreifer im deutschen Fußball überzeugen. Wie kommt das?

Kleindienst: Dafür gibt es keine Erklärung. Ich denke, es ist egal, wo du auf dem Platz agierst, wichtig ist, dass du eine gewisse Robustheit mitbringst, gerade für uns als Stürmer, die auf teils harte Gegenspieler treffen, ist das von Bedeutung. Da musst du dich mit einer gewissen Masse, Länge und Stärke wehren und durchsetzen können.

WELT: Hatten Sie in Ihrer Jugend Vorbilder im Sturm?

Kleindienst: Ich fand Thierry Henry früher immer toll, weil er ein überragender Kicker war – technisch gut, schussstark. Er war sehr komplett, ein perfekter Zielspieler.

WELT: Jupp Heynckes ist mit 298 Toren der erfolgreichste Stürmer in der Gladbacher Geschichte. Hatten Sie seit Ihrem Wechsel mal die Gelegenheit zu treffen oder zu sprechen?

Kleindienst: Nein, bislang noch nicht.

WELT: Als Sie kürzlich in Heidenheim mit Gladbach gastierten, war zu sehen, wie Ihnen ein Fan ein DFB-Trikot mit Ihrem Namen zum Unterschreiben reicht. Das muss doch noch immer surreal für Sie sein?

Kleindienst: Ja, total. Wenn ich über die Nationalmannschaft spreche, ist das immer noch sehr besonders. Ich habe die Trikots daheim und wenn ich sie sehe, denke ich mir jedes Mal, wie unfassbar verrückt es ist, dass ich für Deutschland gespielt habe. Ich muss ehrlich sagen, dass ich mir nie hätte vorstellen können, dass das mal klappt. Natürlich habe ich davon geträumt, aber wenn man nur mal schaut, wie meine Situation vor zwei, drei Jahren war. Deshalb bin ich sehr stolz und glücklich. Und wenn dann so ein kleines Kind kommt und dir ein Nationalmannschaftstrikot mit deinem Namen reicht, dann macht das was mit dir. Ich verspüre große Dankbarkeit, auch meinen Eltern, meinen Brüdern und meiner Frau gegenüber, die mich unterstützt haben.

WELT: Sie hatten viele Trainer – wer hatte den entscheidenden Rat für Sie?

Kleindienst: Was heißt Rat? Das ist schwierig. Auch wenn ich unter Christian Streich in Freiburg eher Ergänzungsspieler war, habe ich auch da viel gelernt. Insgesamt betrachtet ist es sicher Frank Schmidt in Heidenheim, dem ich sehr viel zu verdanken habe. Er hat mir vertraut, wie der ganze Klub eigentlich, denn sie haben mich in der Corona-Phase aus Gent zurückgeholt und mir die Chance gegeben.

WELT: Und wie ist es mit Bundestrainer Julian Nagelsmann?

Kleindienst: Ich finde ihn richtig, richtig gut. Er hat eine klare Idee und zeigt uns Spielern bis ins kleinste Detail auf, was er von uns erwartet. Ich bin sicher, dass Deutschland mit ihm als Trainer sehr erfolgreichen Fußball spielen kann und wird.

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