Mit Höhen und Tiefen kennt sich Andreas Wellinger (29) in seinem Skispringerleben bestens aus. Eine Karriere gespickt mit je zweimal Olympiagold und -Silber, zwei WM-Titeln mit dem Mixed-Team und drei Einzel-Silbermedaillen – aber auch mit schweren Verletzungen, zäher Formsuche und Rückschlägen. Nach gutem Start verläuft diese Saison seit der Vierschanzentournee eher frustrierend. Zuletzt wurde er immerhin Neunter. Jetzt kommt es darauf an: Am Sonntag, 2. März, ist bei der Nordischen Ski-WM in Trondheim/Norwegen das Springen auf der Normalschanze dran (17 Uhr), jener Wettbewerb, bei dem Wellinger 2023 WM-Zweiter wurde.

WELT: Herr Wellinger, es ist elf Jahre her, dass Sie Olympiagold mit dem Team gewannen, sieben Jahre, dass sie Einzel-Olympiasieger wurden. Und im Sommer werden Sie 30 Jahre alt …

Andreas Wellinger: Ich werde alt, ich weiß (lacht). Oder besser: Ich werde erfahrener.

WELT: Was wollten Sie einst mit 30 Jahren erreicht haben?

Wellinger: Ich hatte kein konkretes Ziel, aber vor zehn Jahren dachte ich mir, ich könnte eigentlich mit Ende 20 meine Karriere beenden. Aber der Gedanke hat sich dann mit meinem Kreuzbandriss 2019 und den schweren Jahren danach verändert. Ich habe aktuell keinen Plan für mein Karriereende und bin der Meinung, man soll den Sport so lange betreiben, wie man sich motivieren kann, jeden Tag aufzustehen und zu sagen: ‚Ich reise in der Welt herum, fahre zu Wettkämpfen, zu Lehrgängen und ich bin bereit, Dinge dafür zu opfern.‘ Und so ist es bei mir definitiv noch. Es bringt mir Spaß und ich bin bereit, alles unterzuordnen. Deswegen ist die 29 jetzt, die 30 dann im Sommer nur eine Zahl, die für mich keinen Unterschied macht.

WELT: Zumal nach zwei goldenen Olympischen Spielen der Olympia-Frust folgte. Vor Peking 2022 waren sie gerade wieder leicht im Aufwind, als eine Corona-Infektion alles zunichtemachte. Da ist einiges nachzuholen, oder?

Wellinger: Definitiv. Wir haben ja nächstes Jahr auch endlich mal wieder einen traditionsreichen Wintersportort als Schauplatz der Olympischen Spiele. Ich freue mich sehr darauf. Es gibt noch so einiges, was die nächsten Jahre anstehen könnte.

WELT: Wie wichtig ist es, dass die Spiele 2026 in eine Wintersportregion zurückkehren?

Wellinger: Ich finde es extrem wichtig. Olympische Spiele sind natürlich immer etwas Besonderes, egal ob das jetzt 2014 in Sotschi war oder 2018 in Pyeongchang; Peking habe ich dann aus der Ferne mitverfolgt. Aber wir hatten dreimal Asien mit einer Wintersporttradition, die sich in Grenzen hält. Wenn man Bilder im Kopf hat, was 2010 in Vancouver stattgefunden hat oder 2006 in Turin, dann sieht man einen großen Unterschied. Die Stimmung, das ganze Drumherum war die letzten Male überschaubar. Jetzt Italien, Dolomiten – so stellt man sich Wintersport vor. Deswegen bin ich sehr gespannt, wie es wird.

WELT: Zudem dürften Sie als Genussmensch dort auch gut auf Ihre Kosten kommen, oder? Sie mögen gutes Essen, auch mal ein Glas Rotwein. Da ist Italien nicht so schlecht.

Wellinger: Kulinarisch ist es definitiv ein lohnenswertes Land, in das ich auch gerne in den Urlaub fahre. Südtirol, Dolomiten, die Natur, die Leute, das Essen – das bringt mir einfach Spaß.

WELT: Sie sagten mal mit Blick auf die Ernährung, Sie hätten gute Gene. Heißt das, Ihr Stoffwechsel funktioniert besser als bei anderen Athleten?

Wellinger: Ich habe zumindest einen sehr gut funktionierenden Stoffwechsel, der mir die schöne Situation beschert, dass ich meistens einen Teller mehr essen kann als viele andere, beziehungsweise mein Stoffwechsel das auch braucht. Und ich sage immer: Wenn das Feuer brennen soll, muss man auch gutes Holz hineinschmeißen, damit die Brennkammer überhaupt so funktionieren kann, wie sie soll.

WELT: Oder auch: Ohne Mampf kein Kampf.

Wellinger: So ist es. Der Körper und der Geist brauchen Energie, damit sie effektiv funktionieren. Und dementsprechend muss auch die richtige Energie rein. Wenn ich Bock auf Schnitzel mit Pommes habe, dann esse ich Schnitzel mit Pommes, aber meine tägliche Nahrungsaufnahme ist normalerweise sehr leicht und gesund, was wichtig ist. Und wenn man sich leicht und gesund ernährt, kann man auch mehr essen, weil der Körper das entsprechend besser verarbeiten kann. Ernährung ist mit meinem guten Stoffwechsel überhaupt kein Thema.

WELT: Haben Sie als Spitzensportler, zudem Skispringer, nicht dennoch einen klaren Ernährungsplan?

Wellinger: Nein, gar nicht. Möglichst ausgewogen und regelmäßig essen – das ist mein einziger Plan. Das Frühstück ist aber immer das gleiche, weil ich es überall in einer Box dabeihabe. Auch in Hotels.

WELT: Und wie genau sieht das aus?

Wellinger: Es ist ein selbst gemischtes Müsli, die Trainer nennen es „Hasenfutter“. Das sind Haferflocken, verschiedene Samen, Getreidesorten, die dann mit Wasser aufgeschüttet quellen. Dazu kommt Obst. Ein sehr leichtes, nahrhaftes Frühstück, meine Morgenroutine. Davon könnte ich zwölf Teller essen. Mittags und abends esse ich dann je nach Situation und was es im Hotel gibt oder ob man draußen essen kann. Deshalb freue ich mich auch immer auf den Weltcup in Sapporo. Wenn man dort aus dem Hotel geht, hat man in dieser 2-Millionen-Einwohner-Stadt alle Möglichkeiten. Da gehen wir dann Sushi, Steak oder Nudelsuppe essen. Eine kulinarische Kulturreise.

WELT: Lieber essen gehen oder lieber kochen?

Wellinger: Beides. Wenn wir länger unterwegs waren, bin ich auch froh, daheim mal wieder selbst zu kochen. Wenn ich zu Hause mit meiner Freundin koche, ist die Basis meistens Gemüse, und wir überlegen, was wir drumherum basteln. Bei mir geht auch alles mit Käse überbacken. Ich habe Käse außerdem in allen möglichen Formen im Kühlschrank. Essen ist für mich Genuss.

WELT: Skispringen ja eigentlich auch. Wie sehr bringt es Ihnen aber aktuell Spaß? Es läuft zäh, auch wenn die Achterbahnfahrt Teil dieses Sports ist.

Wellinger: Leider ja – Achterbahnfahrt trifft es ganz gut. Skispringen zu erklären, funktioniert ja schon für uns, die drinstecken, oftmals nicht. Es dann für den Zuschauer verständlich zu machen, ist noch viel schwieriger. Die Herausforderung ist, diese Balance zu finden: Wann funktioniert das System so effektiv, dass du ganz vorne mitkämpfen kannst? Wir haben im Weltcup ein extrem hohes Niveau, dazu sehr wenig Anlauf. Man muss perfekt springen, um ganz vorne dabei zu sein. Dafür braucht es das richtige Setup und die gewisse Leichtigkeit – und dieser Leichtigkeit rennen wir derzeit hinterher, weil die Ergebnislisten nicht so sind, wie man es gerne hätte. Wir investieren alle extrem viel und arbeiten daran, dass es funktioniert, aber im Moment ist es nicht leicht. Das müssen wir einfach weiter vorantreiben.

WELT: Leichtigkeit zu erarbeiten, klingt wie ein Widerspruch in sich.

Wellinger: Das ist es. Aber irgendwo ist das ja auch faszinierend.

WELT: Welchen Einfluss spielt die ständige Anpassung an neue Regeln?

Wellinger: Auf jeden Fall ist es immer wieder ein Prozess. Es gab in der Vergangenheit viele Beispiele, wo mit einer Regeländerung auf einmal neue Namen da waren und andere wegfielen, weil sich der eine Sportler besser adaptieren konnte als der andere. Das war bei mir genauso. 2012 gab es die Regeländerungen von sechs Zentimeter auf null Zentimeter bei den Anzügen im Sommer, im Winter dann wieder rauf auf zwei. Ich war 17 Jahre alt und bin einfach drauflos gesprungen. Für mich war die Regeländerung nichts Dramatisches, weil sowieso alles neu war. Für die Arrivierten aber stellte es eine größere Veränderung dar. Das war wiederum ein Vorteil für mich, leichter, schneller dazuzukommen.

WELT: Und jetzt?

Wellinger: Jetzt sind wir in einem Bereich, in dem es immer wieder kleinere Regeländerungen gibt, aber trotzdem muss man immer wieder von Neuem die Balance finden: Wie liegt der Körper in der Luft? Und da sind ein, zwei Grad Veränderungen im Ski-Anstellwinkel oder im Körperwinkel eine große Veränderung, die optisch kaum ersichtlich ist, aber den ganzen Sprung beeinflusst. Dennoch: Jeder hat die gleichen Bedingungen. Mal spielt es den kleineren Athleten in die Karten, mal den größeren, mal den leichteren, mal den schwereren oder diesem oder jenem Sprungstil. Deswegen bleibt es immer spannend für uns.

WELT: Wie blicken Sie nun auf die WM-Schanze von Trondheim?

Wellinger: Es sind beides vom Profil her kleine Fliegerschanze, also was den Schanzentisch und die Hangneigung betrifft. Ich glaube, dass mir die Normalschanze sehr gut liegt. Auf der Großen war im Sommertraining bei mir alles dabei, sie ist mit Sicherheit die größere Herausforderung für mich. Aber es ist wie immer: Wenn es generell funktioniert, klappt es überall. Wenn nicht, hat man es überall schwer. Ich hoffe, wir haben uns bis dahin auf der Achterbahn nach oben bewegt.

WELT: Was hilft Ihnen beim Frustabbau?

Wellinger: Das ist ganz unterschiedlich. Hauptsächlich ist es die möglichst nüchterne Analyse, denn fast alles von dem, was auf der Schanze passiert, habe ich selbst in der Hand. Klar, wir überlegen auch, ob wir beim Training etwas verbessern können und ob es Materialthemen gibt, die man optimieren kann. Aber das sind Kleinigkeiten, die nur dazu beitragen, dass es effektiver sein kann. 95 % habe ich selbst Hand und muss ich selbst lösen. Da ist die Challenge, mit dem richtigen Körpergefühl und der richtigen Einstellung auf die Schanze zu gehen, sich im Selbstgespräch so weit zu regulieren, dass der Status quo zum Beispiel einstellige Platzierungen heißt und nicht: Ich gewinne das Ding heute.

WELT: Können Sie das Selbstgespräch auch mal abstellen oder gehen Sie ins Bett und es läuft weiter?

Wellinger: Das Selbstgespräch ist immer da, aber ich würde es nicht als Kopfkino und Grübeln bezeichnen, sondern als zielstrebigen Prozess und Gedankengang, sich selbst zu optimieren, damit man vorwärtskommt, bei der WM konkurrenzfähig ist und sich dort überhaupt in die Situation bringen kann, vorn mitzukämpfen.

WELT: Aber wie wichtig ist es, auch mal abzuschalten, damit sich nicht alles darum dreht und auch ein Stück Leichtigkeit zurückkehrt? Dinge tun, die der Seele guttun?

Wellinger: Es muss ein Mix aus allem sein. Ich war letztens zum Beispiel eine Runde Langlaufen – da habe ich als ehemaliger Kombinierer zwar gemerkt, dass ich die Technik nicht verlernt habe, aber es hat sich ganz schön anstrengend angefühlt (lacht). Bewegung an der frischen Luft, mal etwas anderes machen, einen Schritt vor den nächsten setzen – ein Bild, das die Situation bei uns im Skispringen gut beschreibt. Ich war auch mal wieder beim Surfen, einfach mit meinem Board Indoor auf der stehenden Welle – da bin ich in meinem Element, gedanklich nirgendwo anders, körperlich und geistig eine Befreiung. Es tut aber auch gut, wenn man mit dem Team unterwegs ist, sich nach dem Essen zum Karten- oder Dartsspielen zusammenzusetzen. Wir müssen nicht immer über Skispringen reden und nachdenken. Das funktioniert auch nicht. Es geht wieder um die Balance.

WELT: Sie begannen auch mal mit einem Flugschein und haben da prominente Vorbilder wie Simon Ammann und Thomas Morgenstern – Hauptsache fliegen?

Wellinger: Es fasziniert uns alle einfach. Einen Flugschein zu machen, nimmt jedoch extrem viel Zeit in Anspruch, weshalb ich damit erst einmal aufgehört habe. Meine Skisprung-Karriere ist begrenzt, die Zeit muss ich nutzen. Die Fliegerei kann ich theoretisch mein Leben lang ausüben, wenn ich dann noch Lust darauf habe. Also mal abwarten. Wir haben auf jeden Fall alle diese Begeisterung fürs Fliegen, weil es einfach geil ist. Egal, ob Fallschirmspringen, ein Flugzeug fliegen, Skispringen, Skifliegen oder anderes.

WELT: Aber inwiefern sind Skifliegen und das Fliegen als Pilot vergleichbar?

Wellinger: Ich glaube, es ist die Freiheit. Die Zeit bleibt stehen in der Luft, also in der Fliegerei, im Springen. Du musst immer voll da sein, der Fokus, die Konzentration ist höher als sonst. Aber trotzdem ist es ein Freiheitsgefühl; du bist allein in der Luft, sonst passiert relativ wenig drumherum. Und das ist es, glaube ich, was uns fasziniert und antreibt. Wie es sich anfühlt in der Luft, kann ich schwer beschreiben, aber der beste Vergleich ist: Wenn man im Flieger sitzt und die Maschine in ein Luftloch taucht, absackt – eigentlich ein unangenehmes Gefühl, weil der Magen und der Körper lange stehenbleiben, aber dieser kurze Moment von Schwerelosigkeit ist ein guter Vergleich, wie es sich für uns anfühlt, in der Luft zu sein. Und das fasziniert.

Melanie Haack ist Sport-Redakteurin. Für WELT berichtet sie seit 2011 über olympischen Sport sowie über Themen aus dem Fitness- und Gesundheitsbereich. Hier finden Sie ihre Artikel.

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