Die britischen Gesundheitsbehörden sind beunruhigt, in Mittelengland steigt die Zahl an Maserninfektionen. Zwischen Oktober 2023 und Januar 2024 gab es in der Region West Midlands 216 bestätigte und 103 wahrscheinliche Fälle. 80 Prozent der Masern-Erkrankungen seien in Birmingham aufgetreten, der Großteil davon bei Kindern, die jünger als zehn Jahre waren. Das Virus wird beim Husten, Niesen oder Sprechen übertragen.
„Die Kollegen in den West Midlands haben unaufhaltsam daran gearbeitet, den Ausbruch unter Kontrolle zu bekommen“, teilte Jenny Harries mit, Chefin der UK Health Security Agency. „Aber da die Impfquote in einigen Gemeinden so niedrig ist, besteht nun eine reale Gefahr, dass sich das Virus in anderen Gemeinden und Städten ausbreitet.“
Die Impfraten sind zuletzt auf landesweit 85 Prozent gesunken, ein Zehnjahrestief. In Teilen von London lägen sie sogar noch deutlich darunter, so Harries. Dort wird eine noch stärkere Infektionswelle befürchtet. Die oberste Gesundheitsbehörde warnte daher am Montag, dass im ganzen Land sofortige Maßnahmen ergriffen werden müssen, um sicherzustellen, dass alle Kinder gegen Masern geimpft werden.
Mehr als 3,4 Millionen Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren seien nicht geschützt. Für den Schutz sind zwei simple Impfdosen nötig. Woher kommen die Vorbehalte?
Vor mehr als 20 Jahren haben wir an der Universität Exeter ein eher unscheinbares Forschungsprojekt durchgeführt. Damals haben wir uns die E-Mail-Adressen von britischen Homöopathen und Chiropraktikern herausgesucht und ihnen eine Mail geschickt, in dem eine Mutter um Rat bezüglich der MMR-Impfung – Masern, Mumps und Röteln – für ihr einjähriges Kind bat. Die Antworten waren beängstigend: nur wenige Homöopathen und Chiropraktiker empfahlen die MMR-Impfung. Fast die Hälfte der Homöopathen und etwa ein Fünftel der Chiropraktiker rieten sogar davon ab.
Dieses Projekt hat mich damals fast den Job gekostet. Die Homöopathen legten eine Beschwerde gegen solch vermeintlich „unethische“ Forschung bei meiner Uni ein. Es folgte eine längere und äußerst unangenehme Untersuchung der Sachlage, die mich dann aber von allen Vorwürfen frei sprach. Der Vorfall zeigte mir, wie emotional viele alternative Behandler an ihrer Abneigung gegen das Impfen festhalten.
Masernausbrüche in 37 Staaten
Die Masern gehören zu den ansteckendsten Infektionskrankheiten überhaupt. Symptome sind Fieber, Husten, Schnupfen und ein rötlich-brauner Hautausschlag. Das Virus kann schwerwiegende Komplikationen wie Gehirnentzündungen und noch nach mehreren Jahren eine sehr seltene, aber tödliche Spätfolge nach sich ziehen – die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE).
Dabei kommt es immer wieder zur Infektion von Säuglingen, die noch nicht geimpft werden konnten – etwa, wenn sich in einer Praxis zeitgleich oder Stunden zuvor ein nicht geimpfter, an Masern erkrankter Mensch aufhielt. Das Risiko, eine SSPE zu entwickeln, ist bei erkrankten Kindern unter zwei Jahren am höchsten.
Vor wenigen Jahre wurde weltweit die Tatsache gefeiert, dass Masern so gut wie ausgestorben waren. Aber wir hatten uns zu früh gefreut: Masern sind weltweit wieder ein Thema. 2022 erkrankten neun Millionen Menschen an Masern; 136.000 starben daran, vor allem Kinder. Masernausbrüche gab es im vergangenen Jahr in 37 Staaten.
Im Jahr 2001 wurde in Deutschland eine Meldepflicht für akute Fälle beschlossen. Seit März 2020 gibt es das Masernschutzgesetz. Seitdem ist die Gefahr eher gering; demnach müssen Eltern von Kita- und Schulkindern nachweisen, dass ihre Kinder geimpft oder immun sind. Die Inzidenz von Masern in Deutschland liegt seither bei weniger als einem Fall pro einer Million Einwohnern.
Viele sind von dieser Regelung dennoch wenig begeistert. Die Gesundheitsämter in Sachsen-Anhalt etwa sind mehreren Hundert Verdachtsfällen auf Verstöße gegen das Masernschutzgesetz nachgegangen. Im Landkreis Anhalt-Bitterfeld gab es 123 Meldungen von Verstößen. Die Gesundheitsämter des Märkischen Kreises mussten sich seit 2000 mit rund 2400 Verdachtsfällen beschäftigen.
Wegen der hohen Infektiosität des Virus müssen für einen ausreichenden Schutz der Bevölkerung mindestens 95 Prozent aller Personen gegen Masern geimpft sein. Die Immunisierungsrate liegt in vielen Ländern jedoch deutlich darunter. Die Ursachen für die verbreitete Impfmüdigkeit sind sicher komplex. Vieles deutet darauf hin, dass alternative Behandler hier eine nicht unerhebliche Rolle spielen.
Aber warum sollten gerade diejenigen, die sich der sogenannten sanften Medizin verschrieben haben, gegen das Impfen sein? Dafür lässt sich keine einfache Antwort finden; es existieren wohl zahlreiche Gründe. So werden beispielsweise die Risiken des Impfens hochgespielt oder ihre Wirksamkeit infrage gestellt. Ferner wird angenommen, dass das Impfen ein Komplott darstellt, der die viel-gehasste Pharmaindustrie bereichern soll.
Impfpflicht und Grundrechte
Wichtig ist schließlich auch, dass alternative Behandler in ihrer Ausbildung eingetrichtert bekommen, dass ihre spezielle Therapie das Impfen auch auf völlig natürliche Weise ersetzen kann. So bieten viele Homöopathen homöopathisches Impfen an, und Chiropraktiker meinen, dass ihre Wirbelsäulenmanipulationen ein idealer Impfersatz sei.
Ganz besonders heftige Impfgegner sind in Deutschland oft die Heilpraktiker. Zum Masernschutzgesetz verkündeten sie sogar Folgendes: „Die Impfpflicht schränkt gleich drei Grundrechte ein: das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Erziehungsrecht der Eltern und die Menschenwürde.“
Dass Heilpraktiker ihre Impfgegnerschaft oft schon auf der Schulbank vermittelt bekommen, berichtet Anousch Mueller in ihrem Buch über eigene Erfahrungen in ihrer Rolle als Heilpraktikerschülerin: „Ganz massiv wurde in den Seminaren Impfangst geschürt … Ich werde nie vergessen, wie der Dozentin im Seminar ‚Kinder in der Naturheilpraxis‘ die Stimme versagte, als sie anfing, über Impfungen zu sprechen. Das Thema empörte sie derart, dass ihr Luft und Worte wegblieben. Als sie sich wieder gefangen hatte, begann sie mit ihrer Triade. Es sei unbegreiflich, dass so kleine, reine Wesen mutwillig mit Krankheitserregern verseucht würden. Das erfülle den Tatbestand der Körperverletzung …“
In Großbritannien haben wir kein Masernschutzgesetz und jede Menge nicht-ärztliche Behandler, die gegen das Impfen Stimmung machen. Zudem hatten wir den inzwischen berüchtigten Andrew Wakefield, der aufgrund seiner gefälschten Daten viele davon überzeugte, dass die MMR-Impfung Autismus verursacht. Auch deshalb steigt die Zahl der Infektionen beängstigend – und könnte sich ausbreiten.
Mein Fazit ist klar: Masern sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen; es handelt sich um eine extrem ansteckende Krankheit, die sehr ernste Folgen bis hin zum Tod haben kann. Die MMR-Impfung schützt hoch effektiv und hat nur sehr selten Nebenwirkungen. Nicht das Impfen, sondern viel eher das Abraten vom Impfen erfüllt meines Erachtens den Tatbestand der Körperverletzung.
Der Autor
Edzard Ernst, geboren 1948, gilt als einer der einflussreichsten Wissenschaftler auf dem Gebiet der Alternativmedizin. Er war bis 2012 Professor für Komplementärmedizin in der englischen Stadt Exeter. Zuletzt ist sein Buch „Vorsicht Heilpraktiker“ erschienen, das sich kritisch mit der Geschichte sowie den Befugnissen, Methoden und Therapieansätzen der Heilpraktiker auseinandersetzt (180 S., 22,99 Euro).
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