Der Unfallchirurg Dietmar Pennig koordiniert die Versorgung von Schwerverletzten in Deutschland und ist Generalsekretär zweier medizinischer Fachgesellschaften, der für Unfallchirurgie und der für Orthopädie und Unfallchirurgie.

WELT AM SONNTAG: Was bedeutet es für das Gesundheitswesen, kriegstüchtig zu werden?

Dietmar Pennig: Die Nato hat dazu Simulationen erstellt. Im militärischen Ernstfall wäre Deutschland ein Aufmarschgebiet mit 700.000 Soldatinnen und Soldaten aus den Mitgliedstaaten. Aufmarschgebiete werden angegriffen, das zeigt die Realität anderer kriegerischer Auseinandersetzungen. Wir rechnen mit 1000 Verletzten pro Tag, ein Viertel davon schwerstverletzt, also 250 Menschen.

Wams: Sind deutsche Krankenhäuser darauf ausreichend vorbereitet?

Pennig: Über das Traumaregister der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) in München werden die Schwerverletzten erfasst, derzeit sind es jeden Tag etwa 85. Dabei handelt es sich überwiegend um Verletzungen durch Verkehrs-, Arbeits- oder Sportunfälle. Im Kriegsszenario würden noch dreimal so viele Verletze hinzukommen. Auch die Art der Verwundungen wären ganz andere. Darauf sind die Kliniken nicht vorbereitet.

Wams: Wie sieht es bei der Versorgung von Kriegsverletzungen aus – sind Ärzte dafür ausgebildet?

Pennig: In den fünf Bundeswehrkrankenhäusern hierzulande ist entsprechende Expertise vorhanden. Doch im Fall einer Bündnis- oder Landesverteidigung werden die spezialisierten Ärztinnen und Ärzte aus den Kliniken abgezogen und in frontnahen Bereichen eingesetzt. Dann fehlen sie vor Ort. Andere Ärzte müssen folglich geschult werden. Zudem wären die Betten in den Bundeswehrkrankenhäusern und berufsgenossenschaftlichen Kliniken innerhalb von 48 Stunden ausgelastet. Diese Rechnung bezieht sich auf alle vorhandenen Plätze – das ist nicht realistisch. Patienten mit Herzinfarkten oder Schlaganfällen wird es weiterhin geben.

Wams: Dann werden auch zivile Krankenhäuser herangezogen.

Pennig: Genau. Die insgesamt 650 Kliniken des deutschlandweiten Traumanetzwerks stimmen sich miteinander ab und teilen die Verletzten untereinander auf. Das Kliniknetzwerk wurde vor 20 Jahren gegründet, um bei lokalen Überlastungssituationen wie einem Bahnunglück, Flugzeugabsturz oder Terroranschlag Schwerstverletzte schnellstmöglich versorgen zu können. Auch im Fall der Landesverteidigung wird es uns nützen. Zu den erwarteten 1000 Schwerverletzten kommen noch jene 750 Leichtverletzte, die auf lokale und regionale Traumazentren-Krankenhäuser verteilt werden müssen.

Wams: Die Kommunikation funktioniert also. Was fehlt?

Pennig: Es braucht etwa 3000 Ärzte in Deutschland, die Kriegsverletzungen behandeln können. Davon sind wir weit entfernt. Spezielle Kurse der DGU zur Vorbereitung auf einen Krieg oder Terroranschlag richten sich an erfahrene Mediziner. Da lernen sie zum einen, wie sie die Patienten nach Schwere der Wunden priorisieren. Zum anderen wird ihnen gezeigt, wie sie die besonderen Verletzungsmuster behandeln. 900 Absolventen haben wir bislang fortgebildet.

Wams: Kriegsverletzungen wie Schuss- oder Brandwunden könnten nicht ausreichend verarztet werden?

Pennig: Nicht im nötigen Umfang. Auch die psychische Belastung in einem Kriegs- oder Terrorszenario ist extrem belastend für das Gesundheitspersonal und muss trainiert werden. Wer im Klinikalltag einen Oberschenkelbruch operiert, für den sind abgerissene Gliedmaßen und offene Körperhöhlen eine Ausnahmesituation. Damit Ärzte und auch Pflegekräfte weiterarbeiten können, gibt es in den zugelassenen Kliniken Traumapsychologen.

Wams: Was ist mit Verletzungen, die durch moderne Waffensysteme entstehen?

Pennig: Hochgeschwindigkeitsgeschosse verursachen komplexe, schwere Kombinationsverletzungen. Bei so einer Langwaffe kommt es zu einer Rotationsflugbahn des Projektils. Trifft es auf die Haut, reißt es große Löcher hinein. Im Körperinneren werden die Löcher noch größer. Das ist mit einer Schussverletzung wie durch eine Pistole nicht vergleichbar. Solche speziellen Behandlungen werden in den Kursen gelehrt. Im Tagesgeschäft spielt so etwas bislang keine Rolle.

Wams: Und Explosionstraumata?

Pennig: Jeder Splitter wirkt wie ein Mini-Geschoss und kann penetrierende Wunden verursachen. Das heißt, äußere Verschmutzungen gelangen in den Körper, in die Knochen oder Organe. Ein erhebliches Risiko für bakterielle Infekte besteht. Leber oder Lunge können schwer geschädigt werden. Die Sprengwirkung reißt entweder Gliedmaßen ab oder schädigt im Weichgewebe Gefäße und Nerven.

Wams: Müssten angehende Chirurgen das in der Ausbildung früher lernen?

Pennig: Nein, junge Ärzte müssen erst einmal das Handwerk beherrschen. Das richtige Ausbildungssystem besteht bereits: Nach dem Facharzt Orthopädie und Unfallchirurgie folgt die Zusatzweiterbildung „Spezielle Unfallchirurgie“. Hier lernen Ärzte Verletzungen höherer Schwierigkeitsgrade oder Schwerverletzte richtig zu behandeln. Darauf aufbauend sollten sie dann das Training für Krisensituationen absolvieren, das wäre der Notfallchirurg als Personenzertifikat. Allerdings werden die Kurse nicht mit öffentlichen Mitteln gefördert. Entweder zahlen es die Krankenhäuser oder die Ärzte selbst. Das ist ein unerträglicher Zustand!

Wams: Was stört Sie daran?

Pennig: Die Politik sieht sich nicht in Verantwortung, weil die Weiterbildungen nicht zur regulären Krankenversorgung zählen und im Vergütungssystem nicht abgebildet sind. Wenn Frieden herrscht, kann man das so sehen. Doch die Vorbereitungen für den Ernstfall müssen jetzt getroffen werden. Wenn das Land verteidigt werden muss, können wir nicht anfangen, Leute zu trainieren.

Wams: Halten Sie die Gesundheitsversorgung im Verteidigungsfall für ebenso wichtig wie die militärische Aufrüstung?

Pennig: Panzer und Fregatten können angeschafft werden, aber auch die Bevölkerung und NATO-Soldaten gilt es zu schützen. In den Kliniken müssen sie bestmöglich behandelt werden, so dass sie danach ein lebenswertes Leben führen können. Alles andere wäre ein Ignorieren der Daseinsfürsorge, das darf nicht passieren. Schließlich geht es nicht nur um Erwachsene, auch Kinder werden in Kriegen verletzt. Vergangene Woche haben wir wieder 16 Verletzte aus der Ukraine auf die deutschen Kliniken verteilt, darunter ein Kind. Das sind besonders belastende Situationen für uns Mediziner.

Wams: Dass Kriegsverletzte aus der Ukraine in Deutschland behandelt werden, rückt in den Hintergrund.

Pennig: 1300 Ukrainerinnen und Ukrainer wurden seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Klinken hierzulande verteilt. Damit hat Deutschland in der Europäischen Gemeinschaft mehr als die Hälfte der Verletzten übernommen. Ich selbst sitze in diesem Gremium. Der Zivilschutz der Ukraine übermittelt die Liste der Verletzten an eine Arbeitsgruppe besteht aus Intensivmedizinern, Internisten und Unfallchirurgen am Robert-Koch-Institut (Fachgruppe COVRIIN). Diese Liste mit Röntgenbildern und Farbfotos wird auch an das Traumanetzwerk übermittelt, damit wir die Menschen nach Schwere ihrer Verletzungen den Kliniken zuordnen können.

Wams: Ein Probelauf für den Ernstfall?

Pennig: Die zivilen Krankenhäuser lernen dadurch zwar auch für den Ernstfall, doch das Überleben der Menschen wurde vor Ort bereits gesichert. In Deutschland geht es um die Weiterversorgung. Ein Angriff auf Truppen in Berlin, Hamburg, München und Köln gleichzeitig mit massenhaft Schwerverletzen, die sofort versorgt werden müssten, wäre ein anderes Kaliber.

Wams: Wie viel würde es kosten, die Krankenhäuser fit zu machen?

Pennig: Das Abrechnungssystem der Krankenhäuser ist für zivile Kliniken gemacht, für einen gebrochenen Arm oder eine Blinddarmoperation. Kriegsverletzungen sind drei- bis viermal so aufwendig. Momentan gehen die Krankenhäuser aus humanitärem Ansatz in finanzielle Vorleistung. Die von der Ampelregierung versprochenen 50 Millionen Euro als zusätzliche Vergütung des Mehraufwandes für die bislang behandelten Kriegsverletzten aus der Ukraine müssen fließen.

Wams: Und die anderen Vorkehrungen?

Pennig: Wir brauchen Zeit, um in den Kliniken Krisenübungen durchzuführen. Das heißt, 12 bis 15 Krankenhäuser des Traumanetzwerkes einer Region werden für einen Tag vom Netz genommen. Zum Beispiel werden Laienschauspieler mit scheinbar schwersten Wunden vom Schlachtfeld eingeliefert. Nur geübte Strukturen funktionieren im Notfall, die Versorgung von Kriegsverletzen kann nicht am Konferenztisch geprobt werden. Für ein mittleres Krankenhaus kostet das etwa 100.000 Euro. Ein Fortbildungskurs für Chirurgen kostet zudem 1700 Euro, dazu muss der Arbeitsausfall kompensiert werden.

Wams: Was wird noch gebraucht?

Pennig: Daneben muss ein Vorrat zusätzlicher Notfallinstrumente und -materialien angeschafft und eingelagert werden. Im Kriegsfall werden auch die Lieferketten massiv angegriffen. Die Versorgung muss dennoch sichergestellt bleiben. Etwa vier Wochen sollten Krankenhäuser unabhängig weiterarbeiten können. All diese Maßnahmen ergeben nach unseren Kalkulationen eine Summe von knapp 420 Millionen Euro.

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